Die Pränataldiagnostik ist ein wichtiger Baustein der Schwangerschaftsvorsorge und umfasst bestimmte Untersuchungsmethoden, die vor der Geburt (pränatal) durchgeführt werden.
Liebe Steffi,
„Kleine Kinder, kleine Sorgen – große Kinder, große Sorgen.“ So sagt man jedenfalls, aber die Sorgen, die du hattest, als dein kleines Mädchen gerade einmal 20 Wochen in deinem Bauch war, sind die größten, die du je hattest und die du nie wieder erfahren möchtest.
Ihr bekamt die Diagnose Spina bifida am 15. Februar 2019, einem Freitagnachmittag in einer großen Praxis für Pränataldiagnostik. Der Frauenarzt hatte euch überwiesen, weil er beim Organultraschall Probleme hatte, das Kleinhirn darzustellen.
Der Pränataldiagnostiker sagte bereits nach wenigen Sekunden „Das sieht nicht gut aus!“ Von da an fielen Begriffe wie „banana sign“, „lemon sign“ „Rachischisis“, „fehlender Hirnbalken“. Du und Matthias saht nur euer Baby, das im Profil perfekt aussah und mit Armen und Beinen strampelte.
Die Prognose des Diagnostikers war vernichtend. Er sprach von körperlicher und geistiger Behinderung, Problemen bei der Stuhl- und Urinkontrolle und der Möglichkeit, dass das Baby die Geburt nicht überlebt, da das Kleinhirn auf den Hirnstamm drücken könne. Er sah dir tief und voller Mitleid in die Augen und empfahl, dass ihr euch auf die nächste Schwangerschaft konzentrieren sollten. Du wusstest sofort, was er damit meinte. Ein Gefühl von Panik, Trauer und Übelkeit stieg in dir hoch. Am liebsten wolltest du ab jetzt nicht mehr schwanger sein. Wie gelähmt und mit tausend Fragen, aber nur einem Aufkleber mit den Diagnosen im Mutterpass fuhrt ihr nach Hause. Höhnisch schien die Sonne.
Nicht essen, nicht reden, nicht schlafen, dein Herz raste unaufhörlich. Keiner konnte nur irgendetwas sagen. Was sagt man Freunden und Familie? Wie geht es weiter? Wie läuft ein Spätabbruch ab? Nachts um drei Uhr fingst du an zu Googeln. Langsam, aber sicher machte sich die kleine Hoffnung breit, dass doch nicht alles vorbei sein musste.
Wie besessen last du Berichte von Eltern, die ihre Kinder entgegen düsteren Prognosen bekamen und heute glückliche Familien waren. Über die Internetseite www.bfvek.de nahmst du Kontakt zu einer betroffenen Mutter auf, die dich direkt am nächsten Tag anrief. Endlich wart ihr nicht mehr allein mit den Sorgen. Sie hatte ganz Ähnliches erlebt.
Was, wenn doch nicht alles so schlimm werden würde? Hoffnung und Kampfgeist flammten auf. Montagmorgen telefoniertest du mit dem Deutschen Zentrum für Fetalchirurgie, die euch schon für Mittwoch nach Mannheim einluden. Es wurde ein langer Ultraschall gemacht und deutlich mehr Positives an eurem Kind gefunden. Die Beinbewegung war gut, keine Fehlstellungen, nur sehr mild erweiterte Hirnkammern. Ein endoskopischer, vorgeburtlicher Verschluss des Rückens wäre möglich. Auch erklärte man euch ausführlich die Alternativen. Ihr wolltet die OP!
Am 5. April, in der 26. Schwangerschaftswoche, wurde der Rücken eures kleinen Mädchens mit einem Kollagenpatch verschlossen. Es lief alles nach Plan. Der Defekt war höher als gedacht (Th 12). Nach einer Woche durftet ihr nach Hause fahren. Von da an hieß es schonen.
Antonia kam Anfang Juni per Kaiserschnitt zur Welt, nachdem du zwei Wochen vorher mit einem Blasensprung in die Klinik kamst. Es ging ihr gut! Sie war so klein und niedlich, einfach perfekt. Ihr musstet noch sechs Wochen in der Klinik bleiben, bis der Patch komplett mit eigener Haut überwachsen war. Nervlich eine sehr belastende Zeit. Besonders der schnell wachsende Kopf bereitete dir große Sorgen.
Das Thema Shunt stand im Raum. Aber Toni blieb immer auf der Grenze und Hirndruck entwickelte sie zum Glück auch nicht. Nach der Entlassung fuhrt ihr wöchentlich zur Kontrolle beim Neurochirurgen, der im Alter von sechs Monaten eine Ventrikulostomie (Verfahren bei dem die Ableitung von Körperflüssigkeit im Gehirn verbessert wird) durchführte, eine Alternative zum Shunt, einem implantierten Schlauchsystem zur Ableitung der Körperflüssigkeit. Mit acht Wochen erhielt Toni ein Blasenstoma, da Resturin in die Nieren zurücklief. Für euch eine gute Alternative zum Katheterisieren und easy mit einer zusätzlichen Windel zu versorgen. Seitdem hattet ihr keinen Harnwegsinfekt mehr. Vor Schuleintritt soll es verschlossen werden, dann schauen wir, wie sich die Blasensituation entwickelt.
Toni ist euer größtes Glück und ihr seid eine (fast) normale Familie geworden, die ein paar mehr Extra-Termine hat. Toni ist mittlerweile 3,5 Jahre alt, krabbelt, läuft mit einem Rollator kürzere Strecken und flitzt beim Rolli-Skaten gern die Rampe runter. Sie spricht viel und gern und geht, seit sie ein Jahr alt ist, in den Kindergarten. Sie spielt, isst und badet gern und liebt Musik. Ein ganz normales Mädchen, das (noch) nicht laufen kann. Und die Termine in Arztpraxen werden langsam auch weniger.
Was dir damals riesige Sorgen bereitet hat (Stomaversorgung, Physiotherapie, Hilfsmittel, Arztbesuche), ist heute Alltag geworden. Beim Ausfüllen der Unterlagen für den Schwerbehindertenausweis und die Pflegestufe hast du geheult wie ein Schlosshund: „Dieses kleine, bezaubernde Wesen ist doch nicht schwerbehindert!“ Heute bist du froh über die Möglichkeiten, die es gibt. Was habt ihr gejubelt, als der Therapiestuhl endlich ankam oder Toni ihre ersten Versuche mit ihrem „Flitzi“ (mobiler Stehtrainer) machte. Was dich damals erschreckt hat, wenn du Bilder von Kindern im Rolli gesehen hast, siehst du heute mit anderen Augen. Mittlerweile kennst du viele Kinder mit Spina bifida. Alle sind fantastisch und jedes hat ein anderes „Päckchen“ zu tragen. Ihr Eltern seid untereinander bestens vernetzt. Das gibt so viel Kraft!
Aber… es braucht Zeit! Du musstest hineinwachsen in das alles. Am Tag der Diagnose haben dich die Sorgen und Zukunftsängste überrollt. Du konntest dir nicht vorstellen, jemals wieder glücklich zu werden. Und ehrlich gesagt bist du heute auch noch manchmal traurig.
Es gibt immer wieder Situationen, in denen du merkst, dass dein Kind anders ist, etwas nicht kann, mehr Hilfe braucht. Man soll Kinder nicht untereinander vergleichen, aber auf dem Spielplatz oder bei der Musikgruppe werden die Unterschiede schon deutlich. Und wie oft hast du beim Beantragen von Hilfsmitteln (was dir übrigens manchmal wie ein Nebenjob vorkommt) geflucht: „Das Kind hat eine angeborene Behinderung! Was gibt es da abzulehnen oder weiterzuleiten?“
Toni interessiert das alles nicht. Sie ist eine fröhliche, selbstbewusste kleine Persönlichkeit, die alle Menschen in ihrem Umfeld begeistert. Und genau das soll sie auch bleiben. Ihr stärkt sie darin.
Heute schreibst du diesen Text, hochschwanger mit dem kleinen Brüderchen im Bauch. Die Frau an der Käsetheke erkundigte sich letzte Woche nach dem Geschlecht des Babys: „Junge oder Mädchen? Ach, Hauptsache gesund!“ Sie meinte es ja nur freundlich, man sagt das ja so. Und deshalb lächeltest du auch freundlich zurück. Aber du bist schon einen Schritt weiter: HAUPTSACHE GELIEBT
Der Text ist der Veröffentlichung der ASBH e. V. mit dem Titel „Hauptsache gesund? Nein, Hauptsache geliebt!“ entnommen. „Hauptsache geliebt“ ist eine Sammlung von vierzehn Briefen, die Eltern ihrem Ich der Vergangenheit aus dem Heute geschrieben haben. Dabei teilen sie Gefühle, Sicherheit und Erfahrung mit, die sie bis heute gemacht haben und von denen sie damals, als die Kinder die Diagnose erhielten, gerne schon gewusst hätten. Die Broschüre kann bei der ASBH e. V. bestellt werden.
Kontakt
Arbeitsgemeinschaft Spina Bifida und Hydrocephalus e. V. (ASBH)
Telefon: 0231 8610500
Quelle: Deutsches Magazin für Kindergesundheit 2/2023