Nach der Therapie sollten betroffene Patientinnen sich die Möglichkeit geben, sich zu entspannen und eigene Wünsche zu realisieren. Durch den Schock der Erkrankung bekommt ein gesunder Lebensstil häufig einen neuen Stellenwert.
Alles begann mit einem Jahr der schwierigen Veränderungen: Im Frühjahr 2013 trennte sich mein Mann von mir, sodass ich mich an meinen 40. Geburtstag plötzlich als alleinerziehende Mutter von zwei Jungs wiederfand, die damals 10 und 8 Jahre alt waren. Als ich im Herbst glaubte, mein Leben wieder im Griff zu haben – ich hatte eine schöne Wohnung gefunden, der ältere Sohn war auf die weiterführende Schule gewechselt, meine Teilzeit-Stelle als pharmazeutisch-technische Assistentin in einer großen Apotheke konnte ich aufstocken –, kam der nächste Schock: die Diagnose Brustkrebs.
Aber da ich gerade so im „Ich organisiere alles weg-Modus“ war, habe ich auch den Krebs erst einmal allein organisiert: die Vorstellung im Brustzentrum, weiterführende Diagnostik, Therapieplanung, Therapiebeginn … Alles immer möglichst unauffällig, damit die Kinder sich keine Sorgen machten.
Es dauerte nicht einmal ein Dreivierteljahr, bis ich mich nach Chemo, brusterhaltender OP und Bestrahlung wieder fit genug fühlte, um meine Arbeit in der Apotheke zumindest mit reduzierter Stundenzahl wieder aufzunehmen. Ich fand, das täte uns allen dreien gut – für die Jungs käme damit ebenso wie für mich ein Stück Normalität zurück. Erschöpfung oder Fatigue war damals kein Thema für mich, obwohl ich von mehreren Ärzt*innen davor gewarnt worden war.
Inzwischen weiß ich, dass ich keineswegs nur meine Söhne vor der Krebsdiagnose schützen, sondern mich ihr vor allem selbst nicht stellen wollte. Meine „Lebensbilanz“ erschien mir mit 40 so katastrophal, dass ich mich mit der Zukunft überhaupt nicht befassen und schon gar nicht mit anderen Menschen darüber reden wollte. Aus dem Freundeskreis, auch von engen Freundinnen, hatte ich mich zurückgezogen und dies mit der Trennung begründet. Vom Krebs habe ich ihnen nur sehr ansatzweise erzählt.
Die einzigen Menschen, die einigermaßen „eingeweiht“ waren, da ich sie zur Kinderbetreuung in den Therapiephasen brauchte, waren meine Eltern. Meine Mutter versuchte, mehr zu erfahren und mich zum Reden zu bringen, blieb aber erfolglos. Mein Vater litt sehr, sagte aber nichts – von ihm habe ich vermutlich den „Wahn“, alles allein regeln zu wollen.
Heute würde ich fast alles anders machen: Ich würde viel früher und offen mit den Kindern und mit meinen Freund*innen über den Krebs sprechen. Viel zu lange habe ich alles für mich behalten, wollte die Jungs so kurz nach der Trennung von meinem Mann nicht zusätzlich verunsichern. Auch ihm habe ich lange nichts Genaues erzählt, denn ich wollte nicht, dass er sich „aus Mitleid“ um mich kümmert. Bloß nicht abhängig sein!
Alles allein zu stemmen: die Trennung, die Kinder, den Krebs … Das ging letztendlich daneben. Anfang 2018 wurde ich immer schlapper, fühlte mich ständig krank und erschöpft, obwohl ich keine Krebstherapie mehr hatte. Der Hausarzt und die Gynäkologin schlugen Alarm, die Ärzt*innen am Brustzentrum haben mich komplett „auf den Kopf gestellt“ und jede verfügbare Untersuchung mit mir durchgeführt – sie vermuteten, dass der Krebs zurückgekommen sei, und ich glaubte das auch. Es fand sich aber nicht der geringste Hinweis auf ein Rezidiv oder auf Metastasen. Was blieb, war die grenzenlose Erschöpfung und die dadurch stark reduzierte Belastbarkeit, die als Fatigue bezeichnet wurde. Ich bin dann einfach nicht mehr zu den Ärzt*innen gegangen.
Schließlich schickte mich eine Nachbarin zu einer ihr bekannten Psychotherapeutin. Dieser berichtete ich, wie es mir seit 2013 ergangen war – zum ersten Mal erzählte ich die ganze Geschichte mit allen Aspekten. Als ich geendet hatte, schaute sie mich an und meinte: „Und Sie fragen sich ernsthaft, warum Sie so erschöpft sind?“ Da wurde mir erst bewusst, dass ich bisher niemandem meine vollständige Geschichte erzählt hatte. Alle kannten immer nur Teile davon. Nach einigen weiteren Untersuchungen stand dann die Diagnose: Burn-out-Syndrom.
Kurz nach der Diagnosestellung ging gar nichts mehr – ich konnte mich zu nichts mehr aufraffen, wurde krankgeschrieben und meine Eltern versorgten die Jungs. Zu realisieren, dass ich zusammengeklappt war, fiel mir extrem schwer. Zunächst sehr widerstrebend ging ich in eine Psychosomatische Klinik. Die Kinder zogen Ende 2018 für mehrere Monate zum Vater und „verwilderten“ dort entgegen meinen Befürchtungen keineswegs.
Im Gegenteil, den pubertierenden Jungs tat der Umgang mit ihm sehr gut. Er packte sie nicht in Watte, wie ich es immer versucht hatte, sondern redete „Tacheles“ mit ihnen auch über meine Krebserkrankung und das Burn-out. Dass er den Söhnen alles genau erzählt habe, sagte mein Ex-Mann mir am Telefon. Ich bin fast durch den Hörer gesprungen vor Wut, merkte dann aber schnell, dass sich in den Ärger auch ganz viel Erleichterung mischte, denn nun lagen die Karten endlich auf dem Tisch.
Seitdem hat sich alles zum Positiven gewendet: Die Jungs leben wieder bei mir, sehen ihren Vater aber viel öfter als früher, sodass ich regelmäßige „Auszeiten“ habe. Der ältere Sohn hat gerade Abitur gemacht und will ab Herbst studieren. Der jüngere hat das Corona-bedingte Angebot zum freiwilligen Wiederholen eines Schuljahrs angenommen und startet nun nach den Sommerferien in die Qualifikationsphase fürs Abitur.
Er hatte mein Burn-out nicht gut verkraftet und litt vor allem darunter, dass ich so lange nicht offen und ehrlich mit meinen Söhnen gesprochen habe. Er sah das als Vertrauensbruch: „Wie soll ich dir jetzt noch glauben, wenn du sagst, es sei alles in Ordnung?“ Inzwischen zeige ich ihm alle Befunde von den Kontrolluntersuchungen, einmal war er auch bei einem Termin im Brustzentrum dabei. Derzeit geht das leider Covid-19-bedingt nicht, aber wenn es wieder möglich ist und er es möchte, nehme ich ihn gerne wieder mit. Wir reden jetzt viel miteinander, die Jungs und ich. Über ihre Zukunft, über meine Zukunft und auch über unsere Ängste.
Seit Mitte letzten Jahres arbeite ich nun wieder, allerdings mit reduzierter Stundenzahl. In der Apotheke ist durch die Covid-19-Pandemie extrem viel zu tun. Angst vor einer Covid-19-Infektion hatte ich schon, denn mit den beiden Jungs in der Schule und meiner Arbeit in der Apotheke bin ich stärker gefährdet, als es für meine Krebserkrankung optimal wäre. Aber ich rede inzwischen auch mit meinem Chef offen über meine Sorgen und inzwischen bin ich auch geimpft.
Den nächsten Krebs-Kontrolltermin habe ich vom April in den Spätsommer verlegt, damit das Abitur vom Älteren vorbei ist. Ich werde mich allem stellen, was auf mich zukommt, aber erst nach seinem Abitur – so ganz kann ich meine Rolle als „Glucke“ doch nicht ablegen.
Jutta M.
Quelle: Leben?Leben! 2/2021