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Multiple Sklerose

Multiple Sklerose (MS) ist eine Erkrankung des Zentralnervensystems. Das Zentralnervensystem (ZNS) des Menschen ist für die Koordination von Bewegungsabläufen und die Integration von äußerlichen und innerlichen Reizen zuständig.

Multiple Sklerose
© iStock - Stadtratte

MS und blind – Damoklesschwert de luxe

Interview mit Lea Heuser

Lea Heuser ist Kommunikationswissenschaftlerin aus Aachen, seit 2019 Geschäftsführerin des Welthaus Aachen e. V. und schreibt und berät unter www.kommunikatz.de. Sie ist Expertin für leichte und einfache Sprache und kennt sich zudem gut mit Barrierefreiheit im Internet aus. Das hat einen Grund: Lea Heuser ist von Geburt an blind, zudem wurde bei ihr 2006 MS diagnostiziert.

Frau Heuser, Sie haben die MS-Diagnose vor rund 15 Jahren bekommen. Wie hat sich die Krankheit damals bemerkbar gemacht?

Im Prinzip war es ein klassischer Fall. Ich hatte einen Schub, der höchstwahrscheinlich nicht der erste war, die ersten ein oder zwei Schübe liefen jedoch unter der Erkennbarkeitsgrenze ab. 2006 bemerkte ich ein Taubheitsgefühl in meinen Beinen, die Füße begannen zu kribbeln, es kam zu motorischen Einschränkungen. So konnte ich nicht mehr gezielt eine Treppenstufe steigen, sondern es wurden dann z. B. drei auf einmal.

Daraufhin bin ich zu einer niedergelassenen Neurologin gegangen, dort wurden ein EEG und weitere Untersuchungen gemacht. Die Neurologin stellte noch keine Vermutung über die Ursache auf, was mich verunsicherte, sondern überwies mich an die Notaufnahme. Die Klinik behielt mich für einige Tage da, führte die üblichen Untersuchungen wie MRT und Liquor-Untersuchung durch, hielt mich bis zum Ergebnis jedoch ebenfalls noch über die Ursache im Unklaren. Mit der Diagnose MS wurden mir dann einige Info-Broschüren zur Krankheit überreicht.

Für mich war der Schock über die Diagnose nicht so groß, da ich ohnehin bereits seit meiner Geburt blind und es gewohnt bin, mit Handicap zu leben. Ich dachte, das ist jetzt eine weitere Sache, die dazukommt, so viel ändert sich nicht. Stattdessen fühlte ich mich damals eher dafür verantwortlich, mein Umfeld – meine Mutter und meinen damaligen Mann – zu trösten und ihre Panik zu kompensieren.

Am Anfang ging es mir recht schnell auch wieder besser. Ich konnte rasch eine Reha antreten und durch die Behandlung dort, insbesondere durch Physiotherapie, haben sich die motorischen Einschränkungen zurückgebildet. Das blieb auch in den ersten zehn, zwölf Jahren meiner Krankheit nach allen Schüben so. Das Einzige, was mich richtig genervt hat, waren Probleme mit dem Gleichgewichtssinn. Denn als Blinde bin ich auf meinen Gleichgewichtssinn in besonderem Maße angewiesen. Als diese Symptome erstmals auftraten, habe ich mich einige Zeit nicht allein vor die Tür getraut.

Ich habe mich dann dafür entschieden, einen Blindenführhund zu beantragen, der mir mehr Sicherheit geben sollte. Es hat allerdings noch eine Weile gedauert, bis ein Hund bei mir einzog. Denn mit der ersten Führhundschule gab es Probleme, die sich hinzogen. Ich habe mir eine andere Führhundschule gesucht, musste allerdings erneut bei der Krankenkasse einen Antrag stellen, habe mir zwischendurch auch noch einreden lassen, ich solle meinen Hund doch lieber unterstützt selbst ausbilden. Doch das war für mich als Anfängerin nicht sinnvoll und hat ein weiteres halbes Jahr Zeit gekostet.

2014 bekam ich meine jetzige Hündin. Sie ist die größte Bereicherung, die mein Leben erfahren hat. Sie ist für mich wesentlich mehr als nur ein Hilfsmittel. Es ist schön, mit einem Tier so eng zusammenzuleben, auch weil ich mit Katzen aufgewachsen bin, allerdings lange Zeit kein Tier hatte, weil es sich während des Studiums und hinterher im Beruf einfach nicht ergab.

Wie ist das jetzt mit dem Gleichgewichtssinn?

Das ist tagesformabhängig. Die Probleme haben sich reduziert, sind jedoch nicht komplett weg. An manchen Tagen, wenn ich nicht fit bin, z. B. weil ich schlecht geschlafen habe, bin ich nicht richtig sicher. Allerdings habe ich gelernt, damit umzugehen, die Beschwerden zu ignorieren. Ich gehe jetzt trotzdem nach draußen, denn wenn ich das nicht mache, habe ich kein Erfolgserlebnis. Und diese Möglichkeit, mir selbst Erfolgserlebnisse zu schaffen, solange ich sicher genug bin, verleiht mir das Gefühl der Selbstwirksamkeit. Und das ist ausgesprochen wichtig für mich.

Sie leben ein Leben lang mit einem Handicap und haben im Prinzip all das gemacht, was Sie machen wollten? Ist das richtig?

Na ja, ich wusste meistens nicht, was ich wollte. Ich habe die Dinge einfach auf mich zukommen lassen. Vieles ist natürlich schwieriger für mich, es erfordert mehr Aufwand, alles zu organisieren. Spontan sein kann ich kaum, weil ich für Vieles eben Begleitung und Unterstützung brauche, das kenne ich schon mein Leben lang.

Auch mit Hund sind unbekannte Wege schwierig, da ich dem Hund schließlich klare Signale geben muss. Dafür muss ich Wege genau kennen und kann mich nicht einfach allein in eine fremde Umgebung stürzen. Ich bin also nie ganz flexibel. Doch das war ich nie in meinem Leben, deshalb habe ich auch jetzt nicht das Gefühl, dass mir viel fehlt.

Ich habe bereits vor der MS allein gelebt, bin auch allein durch Deutschland gereist – das habe ich auch mit der MS noch getan, solange sich nicht zu viele Einschränkungen aufaddiert und die Symptome sich zurückgebildet haben, mein Zustand also in etwa gleich blieb. Mit den Gleichgewichtsproblemen habe ich das jedoch nicht mehr gemacht. Je mehr Einschränkungen dazu kamen, desto weniger habe ich unternommen – jedenfalls in Mobilitätshinsicht. Aber ich arbeite ja vom Schreibtisch aus – ich habe mir gezielt eine Tätigkeit gesucht, bei der ich nicht ständig auf Achse sein muss.

Wie ging es mit der Krankheit dann weiter?

Letztes Jahr im Sommer hatte ich einen Schub. Ich kam mit Symptomen in die Notaufnahme und erhielt dann über drei Tage eine Stoßtherapie mit Kortison. Als ich wieder zu Hause war, fühlte ich mich noch merkwürdig, dachte jedoch, es liege am Kortison. Drei Wochen später kamen die Symptome zurück. Ich ging wieder ins Krankenhaus, wo man einen doch sehr großen Entzündungsherd feststellte – nachdem das erste MRT so gut wie nichts ergeben hatte.

Das Kortison hatte nicht ausreichend gewirkt. Es folgte also eine fünftägige Stoßtherapie, die zwar geholfen hat, doch von dem Schub habe ich Symptome zurückbehalten. Es war mein erster Schub ohne nahezu vollständige Rückbildung. Meine rechte Körperhälfte fühlt sich nach wie vor sonderbar an – geblieben ist ein Wärmegefühl, das vom Fuß bis zur Brust hoch geht. Meine ganze Temperaturwahrnehmung in der rechten Körperhälfte ist gestört. Kaltes fühlt sich nicht kalt an, Berührungen verursachen manchmal einen leicht brennenden Schmerz. Diese Missempfindungen werden mir voraussichtlich bleiben.

Seit Beginn meiner Krankheit spritze ich Interferon. Die Professorin, die mich vor Kurzem in der Aachener Uniklinik untersuchte, meinte, die MS gehe jetzt vermutlich in die nächste Phase über, sodass andere Medikamente vielleicht besser wirksam seien. Immunsuppressiva mitten in der Pandemie, das war mir erst mal sehr suspekt. Allerdings steht ohnehin zuerst ein Arztwechsel an: Mein bisheriger Neurologe hört in absehbarer Zeit auf und erst nach dem Gespräch mit meiner neuen Neurologin treffe ich die endgültige Entscheidung.

Wie haben sie es geschafft, mit MS umzugehen?

Die MS hat natürlich die Unsicherheit vergrößert. Die Blindheit gehörte von Anfang an zu mir, aber das war ein feststehender Zustand. Die MS hingegen ist viel beweglicher, es kann sich jederzeit was ändern. Ich bezeichne die MS als Damoklesschwert de luxe, weil man nie weiß, was als Nächstes kommt.

Anfangs, als sich die Symptome zurückbildeten, hat sich alles auch nicht schlimm angefühlt. Ich wusste zwar, dass das nicht selbstverständlich ist, aber ich habe mich ein wenig auf der Annahme ausgeruht, dass meine MS einen langsamen, leichten Verlauf nimmt.

Nun bin ich wegen der zunehmenden Krankheitsaktivität doch etwas verunsichert, ob ich mich beispielsweise um die Nachfolge meiner Hündin kümmern kann, ob das Konzept des Lebens mit Blindenführhund weiterhin möglich sein wird, je nachdem, wie meine Motorik und Mobilität sich entwickeln. Unterstützung im persönlichen Umfeld habe ich, aber als Single und mit älter werdenden Eltern sind solche Strukturen natürlich auch immer wackelig. Vieles lässt sich nicht planen. Es gibt immer Unklarheit und Unsicherheit – es kann ganz lange gut gehen oder auch nicht.

Wie gehen Sie mit der Unsicherheit um?

Ich habe keine richtige Strategie, bisher besteht meine Strategie im Hoffen. Allerdings weiß ich mich medizinisch in guten Händen, ich habe u. a. einen Physiotherapeuten, der sehr gut in Neuromobilisation ist. Ich möchte weiter wie bisher leben, selbstständig sein, einen Führhund haben. Ich versuche daher, die negativen Gedanken nicht überhandnehmen zu lassen, sondern die Hoffnung aufrechtzuerhalten, sage mir: „Überleg dir, wie du mit diesem oder jenem umgehen würdest, aber steigere dich nicht rein, das bremst dich nur aus.“ Mit dieser Einstellung kann ich erstaunlich gut leben – auch, weil ich weiß, dass ich, sollte es nötig sein, darin geübt bin, mir Unterstützung zu suchen.

Sie setzen sich im beruflichen als auch im privaten Kontext sehr für Inklusion ein. Was bedeutet Inklusion für Sie?

Inklusion war immer mein Thema, deshalb habe ich mich u. a. sowohl im Studium in der Behindertenvertretung der Hochschule, später dann in einem Verein von Leuten mit verschiedenen Behinderungen dafür stark gemacht. Mit dem Verein gehen wir in Schulen, um Berührungsängste abzubauen und zu zeigen, dass Menschen mit Behinderungen ganz normal leben. Das macht großen Spaß.

Die Kinder sind immer sehr neugierig, ihnen kann man z. B. zeigen, wie sie mit Brailleschrift Spickzettel schreiben. Während der Pandemie sind Schulbesuche natürlich eingeschränkt, ich hatte mich aus verschiedenen Gründen aber schon vorher etwas zurückgenommen.

In der Schule, in den 1980ern und -90ern, war ich Integrationsschülerin. Ich war immer auf Regelschulen. Dadurch habe ich den Unterschied zwischen Integration und Inklusion am eigenen Leib erlebt. Bei der Integration läuft es so, dass das behinderte Kind in die Schulklasse eingegliedert werden soll und immer einen besonderen Status innehat.

Mit der UN-Behindertenrechtskonvention wurde das Augenmerk darauf gelegt, dass jedes Kind seine Besonderheiten hat, alle Menschen ihre eigenen Bedingungen mitbringen. Es gibt also nicht den Unterschied zwischen den „absonderlichen“ Behinderten und den „normalen“ Kindern. Stattdessen sollen bei Inklusion die Verschiedenheiten der Einzelnen zusammengebracht werden, um eine Gemeinschaft zu ermöglichen.

Deshalb bedeutet Ihnen sicher auch Barrierefreiheit viel und Sie setzen sich beruflich dafür ein. Was machen Sie genau?

Ich habe mich intensiv mit dem Thema „Leichte Sprache“ auseinandergesetzt. Leichte Sprache ist streng reglementiert, damit sie auch tatsächlich jeder verstehen kann. Ich habe sie in einem Inklusionsprojekt gelernt, außerdem Fortbildungen dazu gemacht und davon profitiert, dass immer mehr Akteure gesetzlich dazu verpflichtet sind, ihre Inhalte allen Menschen zugänglich zu machen – das generierte viele Übersetzungsaufträge.

Hat das Internet Ihnen Freiheiten gegeben?

Das ist eine zweischneidige Sache: Einerseits ermöglicht das Internet viel, andererseits sind viele Websites und Angebote barrierebehaftet. So kann ich z. B. Dropdown-Menüs nicht bedienen, viele optisch gut aussehende Elemente sind für mich schwierig, wenn mir der Screenreader zwar den Text vorlesen kann, ich aber an die Bedienelemente nicht über die Tastatur herankomme. Grundsätzlich gilt: Je schlichter und standardkonformer eine Website gestaltet ist, umso unproblematischer ist sie in der Bedienung.

Quelle: Befund MS 1/2021

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