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Multiple Sklerose

Multiple Sklerose (MS) ist eine Erkrankung des Zentralnervensystems. Das Zentralnervensystem (ZNS) des Menschen ist für die Koordination von Bewegungsabläufen und die Integration von äußerlichen und innerlichen Reizen zuständig.

Multiple Sklerose
© iStock - Stadtratte

„Die Kraft steckt in uns allen, du musst sie nur freischaufeln“

Janine van Deventer weiß seit ihrem 14. Lebensjahr, dass sie MS hat. Sie lebt mit zwei Hunden an der Ostsee und bloggt auf Instagram unter @journeyofsilenthealingms über ihre Krankheit. Janine van Deventer ist davon überzeugt, dass das Maß aller Dinge die Willenskraft ist – und lebt nach diesem Motto.

Frau van Deventer, Sie haben die Diagnose MS im Alter von 14 Jahren erhalten, also sehr früh. Wie war das für Sie und wie sind Sie damit umgegangen?

Die Diagnose erhielt ich 2001. Ich bin damals zum Arzt gegangen, weil ich eine Gehbehinderung hatte, ich habe ein Bein hinter mir hergezogen. Die ersten paar Jahre habe ich die MS komplett ausgeblendet, nicht zuletzt, weil ich mitten in der Pubertät steckte. Aber auch, weil ich damit ziemlich allein gelassen wurde. Ich hatte zwar einen tollen Arzt und erhielt eine Basistherapie, doch ich habe versäumt, öfter hinzugehen, weil ich zu Hause arge Probleme hatte.

Das Medikament zu spritzen, habe ich auch allein nicht auf die Reihe bekommen, vor allem, weil ich mit den Nebenwirkungen nicht zurechtkam. Die haben sich angefühlt wie eine extreme Grippe. Ich hatte Kopf- und Gliederschmerzen, Verkrampfungen und einiges mehr. Meine Eltern haben das nicht verstanden – und ich habe dann aufgehört, das Medikament zu spritzen und es verheimlicht.

Daneben hatte ich zweimal die Woche Krankengymnastik, aber auch das habe ich damals nicht so ernst genommen. Ich habe mir nur gesagt, dass ich da einfach hinmuss. Was mir damals fehlte, waren Verständnis und Liebe, doch die habe ich mir später zum Glück selbst gegeben. Nur damals ging das alles noch nicht. Meine Gehbehinderung hat sich dann so verschlechtert, dass mit 19 der Rollstuhl kam.

Was passierte dann?

Ziemlich viel. Zwischendurch war ich sogar obdachlos, musste immer schauen, wie ich das alles hinbekam. Es war alles sehr anstrengend und ich frage mich heute noch, wie ich das alles geschafft habe. Trotzdem habe ich nie aufgegeben. Meine Devise war immer: Man darf nicht aufgeben. Man kann durch Erfahrungen wachsen. Die Umsetzung hat jedoch nicht von vornherein funktioniert. Ich war dann auch in einer Klinik und habe eine Therapie gemacht, weil ich merkte, dass ich erst die Seele heilen muss, bevor ich die Körperheilung angehen kann.

Mit 26/27 bin ich in ein Pflegeheim in Hamburg gezogen, ich hatte mich aus einer langjährigen, nicht so schönen Beziehung verabschiedet, weil ich endlich stark genug war. Vor drei Jahren bin ich aus dem Pflegeheim aus- und an die Ostsee gezogen – in eine eigene Wohnung.

Wie kam es, dass Sie aus dem Pflegeheim ausgezogen sind?

Auch das war ein Prozess. Ich zog ein und bemerkte, dass irgendwas komisch ist. Die Mitarbeiter*innen waren nicht so zugewandt, wie man es sich vorstellt. Im Heim haben auch viele Menschen mit einer geistigen Behinderung gelebt und ich hatte den Eindruck, dass es nicht richtig war, wie man dort mit Menschen umging. Ich wurde wie ein Kind behandelt, es war furchtbar.

Der Wendepunkt war für mich ein Morgen, als ich aus dem Bett wollte und auf den Pflegedienst gewartet habe, er jedoch nicht kam. Ich wollte zur Toilette und habe selbst versucht, in den Rollstuhl zu gelangen, doch es klappte nicht. Ich bin auf den Boden gefallen und in dieser Situation fühlte mich wie ein Tier. Dann kam eine Pflegekraft, die jedoch sagte, sie könne mich nicht aufheben, ich sei zu schwer für sie allein. Ich konnte das verstehen, denn es handelte sich um eine zierliche Person. Wie sollte sie das allein schaffen? Sie holte einen männlichen Kollegen und die ganze Situation war für mich furchtbar. Ich war halb nackt, lag am Boden und war hilflos. Danach habe ich mir gesagt: Jetzt reicht es mir, das tu ich mir, meinem Körper und meiner Seele nicht weiter an.

Daraufhin nahm ich ein Buch zur Hand, das mir meine Oma, die der liebste Mensch aus meiner Familie für mich ist, im Alter von 19 geschenkt hatte. Es war von einer Frau geschrieben, die sich selbst aus ihrer Pflegebedürftigkeit mit verschiedenen Methoden, z. B. Feldenkrais, herausgeholt hat. Sie hat es geschafft, wieder laufen zu lernen, hat sich ihr Leben zurückerobert. Nach dieser morgendlichen Situation habe ich das Buch förmlich aufgesaugt und bin meinen eigenen Therapieweg gegangen. Und tatsächlich: Es hat funktioniert. Ich konnte wieder besser sprechen, essen, meinen Hals wieder halten und habe die ersten Aufstehversuche im Bad gemacht.

Das war noch im Pflegeheim, nicht wahr? Wie kam es dann, dass Sie ausgezogen sind?

Ich habe den Bruder einer damaligen Nachbarin im Heim kennengelernt, der mitbekommen hatte, was los war. Und dann haben wir uns entschieden, dass ich in eine der fünf Wohnungen in seinem Haus ziehe. Ich habe meine Sachen gepackt und meinen Hund geschnappt und wohne jetzt hier – nun mit zwei Hunden. Das klingt jetzt so einfach, doch das war es natürlich nicht. Ich bin zunächst auf eine Baustelle gezogen, weil die Wohnung noch rollstuhlgerecht umgebaut werden musste. Das Ganze war sehr anstrengend, aber ich habe es geschafft.

Was haben Sie dann getan?

Ich habe mein Leben geändert, etwa die Ernährung angepasst, trinke keinen Alkohol, rauche nicht und habe mich von Menschen verabschiedet, die mir nicht guttaten. Ich habe versucht, die Sache mit meiner Familie zu klären, doch meine Familie war nicht dazu bereit. Also habe ich meine Probleme mit mir selbst geklärt.

Natürlich hatte ich auch ein paar Rückschläge in den letzten zwei Jahren, die mich kurzzeitig fast wieder dazu gebracht hätten, aufzugeben. Ich habe trotzdem weitergemacht. Die Welt war damals so schwarz und grau, das wollte ich nicht mehr.

Auf dem ganzen Weg habe ich mich gefunden und bin mittlerweile dankbar, dass alles so passiert ist. Denn all das, was passiert ist, hat aus mir den Menschen gemacht, der ich heute bin. Ich habe das „Paket“ Krankheit angenommen und arbeite und lebe damit. Ich schaue, dass es mir gut geht, und teile meine Geschichte mit anderen Menschen mit MS, um ihnen die Angst zu nehmen und zu zeigen, dass es Menschen gibt, die einen Weg aus einer zunächst bedrohlich erscheinenden Situation finden.

Wie leben Sie Ihr Leben jetzt?

Ich stehe morgens auf, mache mich fertig. Da ich den Pflegegrad 4 habe, erhalte ich morgens und abends Unterstützung. Dann kümmere ich mich um die Hunde. Ich habe einen großen Garten mit viel Platz, da ich ländlich wohne – zehn Minuten mit dem Auto von der Ostsee entfernt. Ich mache zweimal die Woche mit Unterstützung durch einen Physiotherapeuten Sport in einem Sportzentrum, habe mir zu Hause ein klitzekleines Sportstudio eingerichtet, in dem ich mit kleinen Geräten wie Hanteln trainiere. Außerdem male und schreibe ich sehr gern. Natürlich habe ich auch regelmäßigen Kontakt zu einem Pflegedienst, weil immer mal etwas sein kann. Das beruhigt mich.

Da ich sehr abgeschieden wohne, habe ich nicht so viele soziale Kontakte, doch genauso wollte ich es, damit ich in Ruhe heilen kann. Ich will meine MS heilen, nicht mithilfe von Zaubertricks – ganz bestimmt nicht. Ich bin regelmäßig bei Neurologen. Doch mit meiner Therapie, zu der u. a. auch Meditation gehört, fühle ich in meinen Körper hinein. Das ist wichtig für mich, da es bei der MS ja um Nervenverknüpfungen geht – Befehle werden von den Nerven, die durch die MS geschädigt werden, nicht mehr richtig weitergeleitet. Doch es gibt die Möglichkeit, neue Verknüpfungen zwischen Nerven und damit mehr oder weniger neue Nervenbahnen herzustellen.

Auf diesem Weg befinde ich mich seit 4,5 Jahren und kann Verbesserungen feststellen. Natürlich geht das nicht schnell, sondern es ist ein Prozess, für den man sich Zeit nehmen und Geduld haben muss. Es gibt leider viele Menschen, die die Zeit nicht haben, so eine Reise anzugehen, z. B. weil sie Kinder haben und arbeiten müssen. Doch ich empfehle es jedem, der an MS erkrankt ist. Mit der MS ist im Prinzip alles möglich, nur ein bisschen anders als bei anderen Menschen. Man muss stärker planen, z. B. wenn man unterwegs ist, muss man sich überlegen, was man alles braucht.

Wie machen Sie das alles mit Ihrem Rollstuhl?

Ich habe keinen Führerschein, aber einen Fahrdienst, der mich etwa zum Sport abholt, sodass ich selbstständig dorthin gelangen kann. Ich kann z. B. allein duschen, mich vom Rollstuhl in die Dusche setzen. Mit dem Rollstuhl kann man alles machen. Z. B. war ich mit dem Rollstuhl auf dem Hamburger Dom. Die Schausteller dort haben mich die Treppen hochgetragen, damit ich Achterbahn fahren kann, ich habe Urlaub in Hotels gemacht, man kann mit dem Rollstuhl fliegen und so weiter. Durch meinen Instagram-Account bin ich schließlich sogar Markenbotschafterin für die Firma geworden, die meinen Rollstuhl hergestellt hat.

Natürlich gibt es bei MS immer auch Einschränkungen, z. B. Symptome wie Fatigue. Die habe ich auch, doch man muss lernen, damit umzugehen. Für mich heißt das: Ich mache jeden Tag zwischen 17 und 18 Uhr gezwungenermaßen eine Pause. Auch mit dem Uhthoff-Phänomen habe ich gelernt umzugehen. Bei mir beginnen die Symptome ab einer Temperatur von 24 °C. Manchmal bekomme ich schlagartig Beschwerden, die ich überhaupt nicht kenne, die neu sind. Dann geht es mir zeitweilig nicht gut, doch ich weiß, dass die Probleme wieder zurückgehen. Man muss lernen, auf sich zu hören.

Nehmen Sie Medikamente?

Nein, seitdem ich die Basistherapie damals abgesetzt habe, gibt es keine neuen Medikamente. Ich habe jedoch auch keine schubförmige MS, sondern die progrediente Form, doch ich halte das Fortschreiten der Krankheit auf. Was ich jedoch nicht darf: eine Woche im Bett liegen, denn dann fällt alles wieder schwerer. Beim Umgang mit anderen Beschwerden helfen mir jedoch CBD-Tropfen und ein Mittel gegen Spastik.

Möchten Sie anderen Erkrankten etwas mitgeben?

Ja natürlich: Ich würde gerne allen meinen MS-Kolleg*innen ein riesengroßes Herz schicken und ihnen sagen: Bitte vertrau dir selbst! Die Kraft, etwas zu ändern, steckt in uns allen, du musst sie nur freischaufeln. MS ist zwar eine Krankheit mit 1.000 Gesichtern, doch wir haben alle die gleiche Krankheit, es sind die gleichen Prozesse, die im Körper ablaufen. Genau deswegen kann auch jede*r selbst etwas tun, damit es ihm/ihr besser geht. Das ist mein tiefster Glaube durch die Dinge, die ich erlebt und erfahren habe.

Wenn andere zu mir sagen, dass sie vieles nicht schaffen, würde ich ihnen gerne sagen: Doch. Das kannst du schaffen. Ich bin z. B. sehr stolz darauf, dass ein großer Fernsehsender eine Dokumentation mit mir gedreht hat, die am 22. Mai zu sehen war. Ich hoffe, dass viele dadurch etwas Mut und Hoffnung schöpfen, weil ich weiß, wie es ist, mit MS-Angst zu leben. Diese Sorgen und Ängste können einen lähmen. Ich würde mir deshalb wünschen, dass es allen an MS Erkrankten so geht wie mir, dass sie die Angst verlieren und auf sich selbst vertrauen. Ich weiß, das ist nicht möglich, aber ich wünsche mir, dass viele Mut schöpfen.

Quelle: Befund MS 2/22

11.10.2022
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