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Multiple Sklerose

Multiple Sklerose (MS) ist eine Erkrankung des Zentralnervensystems. Das Zentralnervensystem (ZNS) des Menschen ist für die Koordination von Bewegungsabläufen und die Integration von äußerlichen und innerlichen Reizen zuständig.

Multiple Sklerose
© iStock - Stadtratte

Von Flöhen und Läusen: CIPD und PPMS

Anna Beckmann ist freiberufliche Webdesignerin, die bereits an Projekten zur Patientenaufklärung zur MS mitgearbeitet hat. 2021 wurden bei ihr zunächst eine primär-progrediente MS (PPMS) und dann eine chronisch inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie (CIDP) diagnostiziert, deren Symptome MS ähneln. Möglicherweise geht die CIDP mit der PPMS einher. Zunächst steht die PPMS als Radiologisch Isoliertes Syndrom (RIS) im Entlassungsbericht der MS-Ambulanz.

Anna Beckmann ist es aufgrund ihrer eigenen Geschichte wichtig, dass Patient*innen, die die Diagnose MS erhalten, sich bei Symptomen, die ebenfalls zu anderen Krankheiten passen, immer wieder fragen: Sind die Beschwerden tatsächlich auf MS zurückzuführen oder liegen ihnen unter Umständen andere Ursachen zugrunde? Oder: Ist die vermeintliche MS vielleicht gar keine, sondern eine andere Erkrankung?

Das gilt vor allem, wenn das Beschwerdebild nicht hundertprozentig zu dem individuellen und schon bekannten Beschwerdebild von MS passt. In all diesen Fällen sollten sich Patient*innen vor dem Gespräch mit ihren Ärzt*innen informieren und unter Umständen auch auf Untersuchungen bestehen, die Aufschluss über die Ursachen geben können, jedoch nicht regelmäßig durchgeführt werden.

Frau Beckmann, wie sind Sie zu Ihrer Diagnose gekommen?

Die Diagnose begann bei mir mit einem Besuch beim Hals-Nasen-Ohren-Arzt. Ich hatte Gleichgewichtsprobleme, ging sehr wackelig, hatte Probleme damit, auf unebenen Oberflächen zu gehen, Kopfsteinpflaster ging z. B. gar nicht mehr.

Allerdings war es mir nicht möglich, die Probleme zu benennen, ich konnte das nicht an einem Muskel oder auch nur an einem Bein festmachen. Es war ganz merkwürdig. Ich hatte das Gefühl, nach hinten oder nach vorne zu kippen, im Dunkeln hatte ich besonders große Probleme, die ich auf den Gleichgewichtssinn zurückführte, da ich auch nicht mehr auf einem Bein stehen konnte.

Es kamen noch andere Symptome hinzu. So wurde z. B. die Handschrift zittriger und ich hatte manchmal einen Tremor in der Hand. Diese Beschwerden standen aber nicht im Vordergrund, da sie im Alltag nicht so belastend waren.

Dann kam Corona und ich war dankbar, dass ich im Homeoffice arbeiten konnte. Dadurch war ich natürlich wenig unterwegs und die Beschwerden wurden binnen zwei Monate rapide schlimmer. Ich war schon nach kurzen Gehstrecken völlig erledigt. Mein Lebensgefährte und ich starteten dann mit täglichen Spaziergängen, die nach und nach länger wurden. Zuerst konnte ich nur etwa einen Kilometer kurze Strecken gehen, immer eingehakt bei meinem Lebenspartner, denn allein hatte ich ständig Angst zu stürzen.

Außerdem wurde ich sehr schreckhaft. Klingelte z. B. ein Fahrrad, hatte ich Angst, nicht rechtzeitig ausweichen zu können. Ich wusste nicht mehr, welchen der Beschwerden lag eine physische, welchen eine psychische Ursache zugrunde. Nach vielen Wochen hatte sich die Gehstrecke verdoppelt und ich war deutlich fitter. Dennoch zogen wir das Fazit, dass etwas nicht stimmt und ich zum Arzt muss.

An den Ohren lag es jedoch nicht und der HNO-Arzt hat mich zum Glück gleich zum MRT geschickt. Im Befund des Radiologen stand, es bestünde Verdacht auf eine MS, da einige nicht mehr akut entzündliche Läsionen im Kopf gefunden wurden. Also schickte er mich zum Neurologen. Der sah sich die Bilder an und meinte, die Läsionen würden die Gangstörung nicht erklären, sodass ein Rückenmarks-MRT gemacht wurde. Auch im Rückenmark wurden alte Läsionen festgestellt.

Wegen der Läsionen und aufgrund meiner Symptome stand PPMS als Verdacht im Raum. Ich las mich ins Thema ein. Mein Bauchgefühl sagte mir, dass PPMS nicht so richtig passt, u. a., weil die Taubheitsgefühle in den Füßen, die sich in der Zwischenzeit ebenfalls entwickelt hatten, im Gegensatz zu vergleichbaren Beschwerden bei einer MS völlig symmetrisch waren.

Hinzu kam: Meine Hausärztin hatte versucht, bei mir den Patellasehnen-Reflex auszulösen, indem sie mit einem kleinen Hämmerchen auf die Sehne unterhalb der Kniescheibe klopfte. Doch der Reflex blieb aus. Das hat mich auch stutzig gemacht, denn bei einer MS kann der Reflex normalerweise ausgelöst werden. Meine Hausärztin war es auch, die das erste Mal das Wort Polyneuropathie ins Spiel brachte.

Der Neurologe meinte jedoch nach Durchgehen der McDonald-Kriterien, dass er auf eine MS tippe. Ich fragte, ob es nicht auch eine Polyneuropathie sein könne, worauf er sagte, dass dem nachgegangen würde, falls es sich nicht um eine MS handele. Er überwies mich in die MS-Ambulanz.

Dort habe ich auf die Reflexe hingewiesen. Neben den üblichen Reflex-Tests wurde in der Ambulanz u. a. auch ein Stimmgabeltest an den Knöcheln durchgeführt, bei dem ich gar nichts gemerkt habe, was ebenso ein Merkmal einer Schädigung der Nerven im ZNS sein kann.

Ich nehme an, die Symmetrie dieser Testergebnisse in beiden Beinen sowie meine Schilderung, dass ich durch Spaziergänge wieder zu Kräften gekommen war, machte die dortigen Ärzt*innen stutzig, sodass sie neben den üblichen Untersuchungen zur MS auch eine Elektroneurografie (ENG) durchführen wollten. Sie sagten mir, dass sie nur in einem von 100 Fällen diese Untersuchung vornehmen.

Bei der ENG und der anschließenden Elektromyografie (EMG) wurde schließlich festgestellt, dass die peripheren Nerven zu langsam leiten, also Myelinschichten in diesen Nerven angegriffen sein müssen und auch Leitungsblöcke bestehen. Die ENG/EMG-Befunde deuteten auf eine CIDP hin. Allerdings ist eine MS auch nicht ausgeschlossen, denn das Radiologisch Isolierte Syndrom – also die alten Läsionen – muss weiter beobachtet werden.

Bei der Lumbalpunktion wurden zudem stark erhöhte Eiweiß-Werte festgestellt, was ebenfalls auf eine CIDP hindeutet, sodass die Neurologin sagte: „Ich bin ja eigentlich gegen Flöhe und Läuse, aber so wie es aussieht, könnte das hier der Fall sein.“

Ich war sehr froh, dass die Diagnose CIDP sehr schnell gestellt wurde, denn diese Krankheit kann unbehandelt immer weiter voranschreiten und sich auf immer mehr Nerven erstrecken. Sie ist allerdings gut behandelbar, im Gegensatz zur PPMS, für die bislang nur ein Medikament zugelassen ist, das jedoch nur einem kleinen Teil der Betroffenen hilft.

Ich bekomme jetzt alle vier Wochen Immunglobuline und hoffe, dass sich die Myelinschicht der peripheren Nerven wieder erholt. Im Gegensatz zur Myelinschicht im ZNS ist das möglich.

Nach einem halben Jahr der Behandlung wird mit dem ENG wieder die Leitgeschwindigkeit der Nerven gemessen. Der Arzt sagte mir, ich solle mir zudem Parameter für meine Symptome überlegen, damit ich nach einem halben Jahr selbst sagen kann, ob es eine Besserung gibt. Ich habe mir u. a. ein Handkraftmessgerät gekauft, um die Kraft im Vergleich dieses halben Jahres zu messen. Aber, wie ich finde, ist das nicht die Aufgabe einer Patientin, sich Parameter zu überlegen. Ich denke, viele Menschen sind damit überfordert. In der Schnittstelle Patient-Arzt muss an dieser Stelle, wie ich finde, die Kommunikation verbessert werden.

Sie haben noch ein besonderes Anliegen, nicht wahr?

Mein Anliegen, auch durch meine Teilnahme an mehreren PPMS-Gruppen in den sozialen Medien, ist, dass insbesondere an PPMS Erkrankte nicht alle neuen Symptome auf die MS zurückführen, sondern den Arzt/die Ärztin aufsuchen sollten, und nicht immer nur den Neurologen/die Neurologin, sondern auch andere Fachärzt*innen.

Die Bezeichnung „Die Krankheit mit den 1.000 Gesichtern“ verschleiert, dass es Beschwerden gibt, die durch andere Erkrankungen ausgelöst werden, die behandelbar sind. Ich kann zwar durchaus verstehen, dass viele Betroffenen diagnosemüde sind, weil die Aussichten gering sind, dass sich etwas verbessert. Doch vor dem Hintergrund von dem, was ich erlebt habe, ist das fatal. Man kann, wie ich jetzt weiß, Flöhe und Läuse haben. Das ist zwar selten, aber möglich. Denn nur weil jemand MS hat, ist er/sie nicht vor anderen Krankheiten gefeit.

Meine Botschaft lautet deshalb: Bei jedem neuen Symptom sollte neu in die Diagnose gegangen werden, vor allem bei neuen nervlichen Symptomen. Betroffene sollten Fragen stellen und sich nicht abwimmeln lassen, vielleicht sogar mitschreiben, was der Arzt/die Ärztin ihnen mitteilt. Und, bei Bedarf, auf Untersuchungen bestehen, die nicht routinemäßig durchgeführt werden wie die ENG.

Denn wie viele vor Jahren diagnostizierte MS-Erkrankte haben womöglich inzwischen noch andere (Autoimmun-)Krankheiten entwickelt, die man ganz anders behandeln könnte? Wenn man sich klar macht, wie schwierig die Diagnose MS eigentlich ist (bzw. sein sollte), ist es eigentlich nur logisch, dass mit neuen Symptomen genauso differenziert umgegangen werden müsste.

Quelle: Befund MS 3/2021

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