Der Begriff Tinnitus bezeichnet eine Gruppe von inneren Ohrgeräuschen, die vom Pfeifen im Ohr über Zischen und Rauschen bis hin zu einem unaufhörlichen Knacken oder Klopfen reichen können. Dabei existiert keine äußere Schallquelle als Ursache.
Je rascher der Patient nach dem ersten Auftreten des Ohrgeräuschs den Arzt aufsucht, desto günstiger ist die Prognose. Möglicherweise – zum Beispiel bei einem Hörsturz – ist eine rasch eingeleitete Notfallbehandlung notwendig. Aber auch jenseits der Notfallbehandlung bestehen zwischen der Erst-Therapie eines akuten Tinnitus und der Behandlung eines chronischen Tinnitus erhebliche Unterschiede.
Die Tinnitus-Behandlung des Not- oder akuten Falls verfolgt zwei Ziele. Zum einen sollen bleibende Schäden oder eine Chronifizierung des Problems ausgeschlossen werden. Zum anderen geht diese frühe Tinnitus-Therapie davon aus, dass akute Ohrgeräusche auf eine Mangelversorgung des Innenohrs zurückzuführen sein könnten, die in der Regel auf einer Durchblutungsstörung beruhen. Deren Ursachen können vielfältig sein: Entzündungen, Viren, Lärm, eine Veränderung der Fließeigenschaften des Blutes und anderes.
Die Behandlung des Tinnitus im Notfall oder akuten Fall zielt daher darauf ab, die Versorgung des Innenohrs mit Blut bzw. Sauerstoff zu verstärken. Dazu verfolgt sie die folgenden Grundsätze:
1. Entzündungsprozesse müssen unterbunden werden. Dies geschieht z. B. mit der Gabe von Cinnarizin und/oder Kortison. Besonders Kortison wird für die Sofortbehandlung gegeben, bevor die Ergebnisse umfänglicher Untersuchungen vorliegen. Bei chronischem Tinnitus wird Kortison wegen der über längeren Zeitraum hin drohenden Nebenwirkungen nicht gegeben.
Wenn die Ohrgeräusche auf Zellschädigungen aufgrund der Einnahme von Antibiotika zurückzuführen sind, kann auch die zusätzliche Gabe von Antioxidantien, z. B. Vitamin E, die Erholung verbessern.
2. Die Fließeigenschaften des Bluts müssen verbessert werden. Dies kann mit den Blutverdünnern Hydroxyethylstärke HES oder Dextranen geschehen, die intravenös über einen Tropf verabreicht werden – beide Mittel können in Einzelfällen erhebliche Nebenwirkungen auslösen, die gegebenenfalls vom Juckreiz bis hin zur Herz-Kreislauf-Störungen reichen.
Die Infusionsbehandlung dauert in der Regel 7 bis 14 Tage, bei täglicher Gabe einer Infusion von 500 Millilitern Flüssigkeit, die innerhalb von jeweils 4 bis 6 Stunden ins Blut gelangt. Je nach Stärke der Symptomatik können diese Infusionen im Krankenhaus oder auch ambulant beim HNO- oder Hausarzt gelegt werden.
3. Die Blutgefäße müssen erweitert werden, um einen erhöhten Durchfluss zu ermöglichen. Dies kann mit gefäßerweiternden Mitteln erreicht werden. Mögliche Nebenwirkungen bestehen in allergischen Reaktionen wie Juckreiz, Ausschlag, Kopfschmerz, Übelkeit, Erbrechen oder Schlaflosigkeit. Bei Naftidrofuryl, das bei akutem Tinnitus ebenfalls die Durchblutung erhöhen kann, treten zusätzlich zu den genannten Nebenwirkungen gelegentlich Aufmerksamkeitsstörungen, Unruhe und Angst auf.
4. Der Sauerstoffgehalt im Blut muss erhöht werden. Diesem Zweck dient die hyperbare Sauerstoff-Therapie HBO (das aus dem Altgriechischen abgeleitete „Hyperbar“ bedeutet „Überdruck“). Sie funktioniert ebenso wie die Druckkammer bei Tauchern. Bei erhöhtem Umgebungsdruck löst Sauerstoff sich physikalisch im Blut auf. Der Patient wird in einer Druckkammer erhöhtem Umgebungsdruck ausgesetzt und erhält Sauerstoff über eine Atemmaske. Diese Tinnitus-Therapie hilft gelegentlich bei akuten Fällen; bei chronischen Fällen ist die Prognose dieser Therapieform deutlich vermindert.
Wegen der möglichen Nebenwirkung einer „Sauerstoff-Vergiftung“ und der Erkenntnis, dass die Heilungsaussichten von hyperbaren Sauerstoff-Therapien nicht die von medikamentösen Infusionstherapien übertreffen, wird dieses Verfahren nur beschränkt empfohlen.
Über die genannten Verfahren hinaus werden den verabreichten Infusionen unter Umständen auch Lokalanästhetika wie Lidocain oder Procain zugegeben, mit dem Ziel, fehlerhafte elektrische Entladungen zwischen geschädigten Haarzellen im Innenohr zu unterbrechen.
Wenn der akute Tinnitus auf Probleme der Halswirbelsäule zurückzuführen ist, können chiropraktische oder physiotherapeutische Behandlung helfen. Liegt das Ohrensausen oder -klingen an Erkrankungen oder Verspannungen des Kiefers, sind Entspannungsübungen oder eine zahnärztliche Behandlung angeraten.
Stellt die erste ärztliche Untersuchung allerdings einen objektiven Tinnitus fest, kann auf die Erst- oder Notfallbehandlung verzichtet werden – eine HNO-ärztliche Operation, welche die Ursache des objektiven Geräuschs beseitigt, kann den Betroffenen dieser akuten Tinnitus-Fälle in der Regel helfen.
Bei der Tinnitus-Retraining-Therapie (TRT) handelt es sich um eine Mischung aus Gewöhnung an das Ohren-Piepen, seine Neubewertung und eine Veränderung der Wahrnehmung. „Retraining“ bedeutet „Umlernen“. Dieses Umlernen ist ein intensiver Prozess, bei dem die beteiligten ärztlichen Versorgungsgruppen reibungslos ineinander greifen müssen, und der sich bei Erfolg bis in die unbewusste Wahrnehmung des Patienten hinein niederschlägt.
Ist die Tinnitus-Retraining-Therapie erfolgreich, können physische Veränderungen beteiligter Nerven beobachtet werden: Zum einen in den Nervenbahnen des Hörsystems selbst, zum anderen an den Verknüpfungen zwischen Hörwahrnehmung und sehr tief liegenden Hirnarealen, die für das emotionale Erleben zuständig sind. Solch tiefgreifende Veränderungen erfordern Geduld und Disziplin auf Seiten des Patienten, der auch zwischen den regelmäßig aufzusuchenden TRT-Terminen aktiv mitarbeiten muss.
Die Tinnitus-Retraining-Therapie ist ein Bündel von Maßnahmen. Die übliche Behandlungsdauer der TRT liegt zwischen einem und zwei Jahren.
Herausfinden der Gründe für eine Tinnitus-Erkrankung
Erkrankungen des Innenohrs sind meist der Auslöser eines chronischen Tinnitus-Leidens, aber sie sind kein hinreichender Erklärungsgrund für dessen Fortbestehen nach Wegfall der Grunderkrankung. Aus diesem Grund muss ganz genau geklärt werden, in welcher Form sich Nervenbahnen und Informationsübertragungen im Hirn während des Umschlags des Ohrensausens oder -klingens vom akuten zum chronischen Zustand verändert haben.
Information des Patienten und Angstminderung bei Tinnitus-Erkrankung
Als Nächstes ist es wichtig, dem Patienten ganz genaue Informationen zu geben, was in seinem Ohr und in seinem Nervensystem bei der Tinnitus-Erkrankung vor sich geht. Vorträge, Broschüren, Bücher und ausführliche Gespräche mit dem Arzt helfen dem Patienten, das Phänomen einzuordnen und ihm seine Angst vor dem Unbekannten zu nehmen.
Psychologische oder psychosomatische Therapieverfahren
Ferner gilt es gerade bei chronischen, komplexen Tinnitus-Erkrankungen dem Patienten zu helfen, seine gesunden „emotionalen Filter“ wieder zu aktivieren. So, wie das Hirn „lernen“ konnte, dem Tinnitus übertriebene Aufmerksamkeit zu widmen, so kann es wieder lernen, ihm diese Aufmerksamkeit zu entziehen. Das Prinzip dieses Verfahrens liegt, kurz gesagt, darin, dass die am Hören beteiligten Areale nur einen einzigen Hauptreiz zur selben Zeit verarbeiten können. Der Patient muss also „einfach“ wieder konzentriert auf etwas anderes hören – dies aber intensiv.
Tragen eines Tinnitus-Maskers oder Rauscherzeugers
Der Patient trägt ein Hörgerät, das ein Hintergrundrauschen erzeugt, um dem Hörsystem einen Ablenkungsreiz anzubieten (ein sogenannter Noiser – sodass die unbewusste Konzentration auf das Ohrensausen oder -klingen aussetzt und die emotionale Fokussierung auf das Phänomen Tinnitus aufgelöst wird.
Bewusste Konzentration auf Alternativ-Reize
Ein positiver Hörreiz, wie zum Beispiel Musik, hilft dem Betroffenen, sich auf alternative Reize zu konzentrieren – besonders, wenn (wie neue Studien nahelegen) die Tinnitus-Frequenz selbst zuvor aus den Stücken herausgefiltert wurde.
Unterstützt und begleitet werden können diese therapeutischen Maßnahmen gegebenenfalls mit unkonventionellen unterstützenden Heilmethoden, bei denen allerdings bisher kein wissenschaftlicher Nachweis zur unmittelbaren Wirksamkeit auf die Entwicklung des Ohrensausens gelungen ist. Allerdings können sie dem Patienten seine Situation erleichtern und sein allgemeines Wohlbefinden heben – damit wirken sie möglicherweise indirekt auf die Heilung ein. Zu den bekannteren dieser Heilmethoden zählen die Akupunktur, die Traditionelle Chinesische Medizin und die Homöpathie. Vereinzelt und ohne Tinnitus-Retraining-Therapie eingesetzt werden diese Methoden von Ärzten nicht empfohlen.
Bei der gelungenen Kombination dieser Maßnahmen wird mit der Zeit die Aufmerksamkeit gegenüber dem Tinnitus-Geräusch aufhören: Die Nervenbahnen „entwöhnen“ sich, der Patient hat in der Regel gelernt, mit dem Tinnitus zu leben, bei manchen sogar (rund 7 % der Betroffenen) verschwindet der Tinnitus ganz.
Jochen Winkelmann