Krebs ist eine vielschichtige Krankheit. Man versteht darunter jede Veränderung eines Gewebes, bei der die Zellen sozusagen ihre Differenzierung verlieren und daher autonom, also selbstständig wachsen können.
Im schlauchartigen Raum mit vier weißen Lederstühlen hängt ein buntes Bild. An der rechten Seite ein Preisschild und der Titel. Dieser lang gezogene Durchgangs- und Warteraum ist der Korridor zur Glückseligkeit. Oder bedeutet beim Verlassen Hangen und Bangen durch wochenlange Therapien.
Über den Häuserzeilen der Himmel, der Himmel der Unschuld, hell und zartblau. Vorbei sind die Aschewolken des isländischen Vulkans. Geläutert.
Hell und zartblau ist das Hemd des Arztes, der nach vielen langen Minuten ohne Mimik von seinem Bereich jenseits des Korridors im offenen und pulsierenden Empfangsbereich seines Instituts hin und her schreitet.
Telefonische Nachfragen nach außen, Warten und wieder Hin und Her.
Die Zeitangaben taugen nicht. Die Zeit ist entzerrt. Warten findet nur äußerlich statt. Innerlich nur Ja oder Nein.
Die Tür geht auf. Treten Sie ein, ja, bitte, nehmen Sie Platz. Keine ersichtliche Regung. Warum auch? Es ist noch alles offen.
Der Himmel ist noch hell, das Hemd des Arztes zartblau.
„Wie ich es befürchtete – Sie haben Krebs. Leider.“
Die Organisation der nächsten Schritte wird phrasenlos erläutert.
Die neu als Krebspatientin erstandene Frau ist über sich selbst irritiert. Kein Aufmucken, nur Logik.
In der nächsten Zeit wird sie einen Teil ihrer Körperlichkeit unter die gewetzten Messer legen und warten. Therapien durchziehen, hoffen. Neue Lebenspläne erdenken.
Unter dem frischen Aprillaub der Kastanien beobachtet sie die glitzernden Kobolde im Brunnen.
Die Welt ist schön.
Waltraud Kirste
Quelle: Leben? Leben! 3/2013