Krebs ist eine vielschichtige Krankheit. Man versteht darunter jede Veränderung eines Gewebes, bei der die Zellen sozusagen ihre Differenzierung verlieren und daher autonom, also selbstständig wachsen können.
Minimalinvasive chirurgische Verfahren werden seit den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts zunehmend in der operativen Medizin eingesetzt. Die Vorteile einer derartigen Schlüssellochtechnik sind für die Patienten offensichtlich: Neben dem besseren kosmetischen Ergebnis sind minimalinvasive Verfahren mit einem geringeren Risiko für Wundinfektionen, geringen postoperativen Schmerzen und einem schnelleren Erreichen eines normalen postoperativen Aktivitätsniveaus verbunden.
Die Standardlaparoskopie weist jedoch Limitationen auf. 2D-Ansicht und fehlende Winkelbarkeit der Instrumente erschweren dem Operateur den Eingriff. Vergleichbar ist dies dem Binden von Schnürsenkeln mit zwei eingegipsten Handgelenken mit einem verbundenen Auge. Der standardlaparoskopische Chirurg ist also in seinem klinischen Alltag einer deutlich erhöhten manuellen Herausforderung ausgesetzt.
Seit gut 15 Jahren ist ein weiterentwickeltes Werkzeug für minimalinvasives Operieren verfügbar: Die roboterassistierte Technik. Wesentliche Unterschiede zur Standardlaparoskopie sind 3D-Bildgebung und winkelbare Instrumente. Die räumliche Tiefenwahrnehmung bleibt erhalten und komplexe Bewegungen sind durch die Gelenke an den Instrumenten problemlos möglich. Zusätzliche Vorteile wie Bildstabilisierung, starke Vergrößerung, intuitive Bedienung der Instrumente und eine ergonomische und damit ermüdungsfreie Arbeitsposition erleichtern die Durchführung komplexer Operationen.
In den ersten Jahren der Anwendung dieser neuen Technik wurde vielfach in Frage gestellt, ob dieses weiterentwickelte Werkzeug tatsächliche Vorteile für den Patienten mit sich bringt. Inzwischen ist dies in zahlreichen Publikationen belegt. Die beste Datenlage besteht für die roboterassistierte radikale Prostatektomie (vollständige Entfernung der Prostata). Hier wurde u. a. im Rahmen einer kontrolliert randomisierten Studie der Vorteil für Kontinenz- und Potenzergebnisse für die roboterassistierte Technik im Vergleich zur Standardlaparoskopie belegt. Aus der Versorgungsforschung zeigen sowohl amerikanische Datenbanken als auch die Auswertung von Daten aus Deutschland einen signifikanten Vorteil der roboterassistierten Chirurgie bezogen auf allgemeine Komplikationsraten wie Thrombosen, Embolien, Infektionen und Gabe von Fremdblut. Auch ist mehrfach belegt, dass die Notwendigkeit für erneute Krankenhausaufenthalte im 30- und 90-Tage-Intervall im Rahmen der roboterassistierten Chirurgie reduziert ist.
Die Datenlage für andere urologische Eingriffe wie die partielle Nephrektomie (operative Entfernung der Niere) oder die Zystektomie (operative Entfernung der Harnblase) sowie Eingriffe aus anderen Fachgebieten (Gynäkologie, Allgemeinchirurgie, Thoraxchirurgie oder HNO) sind noch größtenteils schwächer. Der offensichtliche Vorteil des Werkzeuges für den Anwender macht es jedoch wahrscheinlich, dass sich auch hier in der Zukunft Vorteile belegen lassen.
Ich sehe klare Vorteile für alle Eingriffe die ein höheres Komplexitätsniveau haben. Hierzu zählen neben der Prostatektomie die organerhaltende Nierenchirurgie (partielle Nephrektomie), die Nierenbeckenplastik, die Zystektomie mit intrakorporaler Harnableitung, rekonstruktive Eingriffe an Harnleiter und Blase sowie die Entfernung von Lymphknoten im Bauchraum oder im kleinen Becken.
Das Hightech Instrumentarium bedarf einer besondere Schulung der Assistenzkräfte. Hierfür ist es sinnvoll spezielle Mitarbeiter auszubilden, die ausschließlich roboterassistierte Eingriffe begleiten. Dieses gilt sowohl für die Operationsassistenz als auch für die pflegerische Instrumentation.
Zahlreiche Daten belegen inzwischen auch, dass es von großem Vorteil ist, roboterassistierte Eingriffe in Zentren mit hohem Eingriffsvolumen durchzuführen. In anderen Ländern hat dies bereits dazu geführt, dass eine Vergütung roboterassistierter Eingriffe nur erfolgt, wo entsprechende Eingriffszahlen erreicht werden. Ich halte Mindestzahlen von 100 Prozeduren pro Operateur und Jahr und mindestens 300 Eingriffen pro Institution für sinnvoll.
Auch das chirurgische Ausbildungskonzept ändert sich. Für die roboterassistierte radikale Prostatektomie wurde von der Europäischen Gesellschaft für Urologie ein zertifiziertes Ausbildungsprogramm für Operateure entwickelt und validiert. Das Programm umfasst Theorie, Simulation, Tiermodel und klinische Ausbildung und wird mit einem Zertifikat abgeschlossen.
Die Entwicklung geht weiter und schon jetzt ergeben sich zusätzliche Optionen. Die Einblendung von intraoperativ erhobenen Ultraschallbildern oder Computertomografie- oder Magnetresonanzaufnahmen ist möglich. Durch Licht im Nah-Infrarotbereich kann die Durchblutung von Organen im Rahmen der Nieren-, Harnleiter- oder Darmchirurgie dargestellt werden. Weitere Optionen sind in der Entwicklung.
Die roboterassistierte Chirurgie etabliert sich zunehmend als Standardverfahren für komplexe, operative Eingriffe. In den skandinavischen Ländern, den USA aber auch in Taiwan ist die offene radikale Prostatektomie bereits Medizingeschichte. Gleichartige Entwicklungen zeichnen sich in allen Industrieländern, auch in Deutschland, ab. Im Jahre 2030 wird die offene Chirurgie die Ausnahme darstellen. Die Herausforderung an das Gesundheitswesen und die medizinischen Fachgesellschaften ist, eine flächendeckende Versorgung der Patienten an High-volume-Zentren sicherzustellen und eine adäquate Ausbildung von Operateuren und anderen Prozessbeteiligten sicherzustellen.
Dr. med. J. H. Witt, Gronau
Quelle: Befund Krebs 2/2016