Multiple Sklerose (MS) ist eine Erkrankung des Zentralnervensystems. Das Zentralnervensystem (ZNS) des Menschen ist für die Koordination von Bewegungsabläufen und die Integration von äußerlichen und innerlichen Reizen zuständig.
Vanessa Gose leitet die Klettergruppe „Gib alles, aber niemals auf!“, kurz Gaana, im Braunschweiger Verein „Boulder e. V.“ Diese Gruppe ist etwas Besonderes, denn in ihr treffen sich Menschen mit verschiedenen Behinderungen, darunter einige mit MS, um regelmäßig an einem gemeinsamen Klettertraining teilzunehmen. Vanessa Gose hat bereits viel Erfahrung mit dem Klettern mit MS. Denn zuvor war sie Leiterin einer Klettergruppe für MS-Betroffene im Deutschen Alpenverein der Sektion Braunschweig.
„Das Besondere am Klettern mit MS ist, dass sich die Probleme der einzelnen Betroffenen z. T. stark voneinander unterscheiden“, so Vanessa Gose, die u. a. eine Ausbildung zur Inklusionsmanagerin absolviert hat. „Nicht umsonst nennt man die MS die Krankheit mit den 1.000 Gesichtern, denn die einzelnen Krankheitsverläufe sind sehr verschieden. Daher heißt es, auf jeden Teilnehmer unserer Klettergruppe individuell einzugehen – natürlich unabhängig davon, ob er MS hat oder nicht. Allerdings kommen zahlreiche Einschränkungen oder Behinderungen, die andere Ursachen als MS haben, bei MS ebenfalls vor oder können sich, etwa nach einem Schub, neu einstellen. Manche davon sind auf den ersten Blick zu erkennen, andere – wie etwa die psychische Belastung – nicht. Aber es ist wichtig, auf alle körperlichen oder psychischen Veränderungen einzugehen und zu schauen, was den Teilnehmern beim Klettern mit diesen Einschränkungen möglich ist.“
Die einzelnen Teilnehmer der Klettergruppe benötigen daher ganz unterschiedliche und feinjustierte Unterstützung. So gibt es MS-Patienten, für die Druck auf den Körper/die Haut sehr schmerzhaft ist. Bei diesen, so Vanessa Gose, heißt es, darauf zu achten, dass sie z. B. nicht im Kletterseil pendeln bzw. schaukeln und bei der Kletterunterstützung nur wenig oder gar kein Druck auf den Körper ausgeübt wird. Andere hingegen benötigen Unterstützung dabei, den Fuß an die richtige Stelle der Klettergriffe zu setzen. Mit Teilnehmern, die stark bewegungseingeschränkt sind, z. B. im Rollstuhl sitzen, klettert Vanessa Gose auch schon mal die Kletterwand in der Übungshalle gemeinsam ganz nach oben. Das ist zwar für beide u. U. sehr anstrengend, zugleich jedoch sehr befriedigend.
„Allerdings bedarf es schon einiger Übung, die Kletterwand zu erklimmen“, sagt Vanessa Gose. „Neue Teilnehmer sollten sich nicht vornehmen, bereits beim ersten Training bis ganz nach oben zu kommen. Es ist besser, zunächst nicht zu viele Erwartungen zu haben. Jeder Teilnehmer muss erst allmählich austesten, was für ihn funktioniert und was überhaupt nicht geht. Außerdem müssen alle lernen, mit ihren Sorgen über die Höhe und die Seilsicherung, umzugehen, die sie beim ersten Mal Klettern vielleicht mitbringen. Faszinierend ist es zu sehen, welche Fortschritte die Teilnehmer im Laufe der Zeit machen. So gibt es Menschen mit MS, die zunächst ihr Bein beim Klettern nicht anwinkeln können und daher die Hebelwirkung nutzen müssen, um die Kletterwand hochzukommen. Wir haben bereits erlebt, dass durch das regelmäßige Training eine gewisse Beweglichkeit zurückgekehrt ist und das Bein wieder um 90° angewinkelt werden konnte. Natürlich stellen sich solche Erfolge i. d. R. erst nach mehreren Monaten ein.“
Das Faszinierende am Klettern, meint Vanessa Gose, ist, dass es viele Sinne gleichzeitig anrege. Außerdem werden die Koordinationsfähigkeiten gestärkt, ebenso das Gleichgewicht. Zudem ändere sich das Körpergefühl der Kletterer. Zugleich entwickeln die meisten Menschen mit Bewegungseinschränkungen eigene Techniken, die ihnen beim Klettern helfen, ihre Ziele zu erreichen. Ihre Beweglichkeit verändert und verbessert sich.
„Kletteranfänger mit MS muss man jedoch oft erst einmal ausbremsen. Viele erwarten zu viel. Man braucht jedoch Geduld mit sich selbst, muss sich zunächst an neue Bewegungsfolgen gewöhnen und lernen, den Körper auszutarieren.“ Für viele heißt das z. B., mit Unterstützung bodennah im Seil zu sitzen und die ersten Bewegungen auszuführen, um Sicherheit zu gewinnen, bevor es höher hinausgeht. Das Großartige am Klettern sei auch, dass die Betroffenen die Klettergruppe nicht nur als Sportgemeinschaft sähen, sondern sich gegenseitig auch mentale Unterstützung böten. Innerhalb einer solchen Gruppe gebe es oft einen großen Zusammenhalt, der allen zusätzliche Kräfte verleihe.
An der Klettergruppe Gaana können prinzipiell alle Menschen teilnehmen, die sich körperlich oder auch psychisch beeinträchtigt fühlen. Wer gerne Klettern möchte, kann gerne einen Schnuppertermin vereinbaren. Die Gruppe klettert an einem 17 Meter hohen Turm des Vereins. Vernetzungen und Kontakte zu anderen Klettergruppen sind vorhanden. Daraus entstehen auch gemeinsame Klettertrainings, die sehr genossen werden und einen außerordentlichen Rahmen bieten. Es kommt auch vor, dass die Gruppe am Felsen klettert, wenn es die äußeren Umstände zulassen. So ist es gerade bei Bewegungseinschränkungen wichtig, dass das Gebirge oder der Berg mit dem Rollstuhl zu erreichen ist. Das jedoch ist nur an wenigen Orten ohne Weiteres möglich.
Wer Interesse am Klettern mit MS hat: Die Gruppe Gaana im Boulder e. V. trifft sich jeden Donnerstag von 16.30 bis 18.30 Uhr in der Halle am Westbahnhof 3 in Braunschweig. Sinnvoll ist es, zunächst Kontakt mit Vanessa Gose unter der Mailadresse gaana@boulder-ev.de aufzunehmen, um weitere Informationen zu erhalten.
Quelle: Befund MS 2/2018