Krebs ist eine vielschichtige Krankheit. Man versteht darunter jede Veränderung eines Gewebes, bei der die Zellen sozusagen ihre Differenzierung verlieren und daher autonom, also selbstständig wachsen können.
Die Therapiemöglichkeiten für die Behandlung von Krebs entwickeln sich ständig weiter, die einzelnen Therapiemethoden und Einsatzgebiete wachsen. Doch alle Therapien haben auch immer eine Kehrseite: die möglichen Nebenwirkungen. Um diese zu lindern, kommt die sog. Supportivtherapie zum Einsatz. Während Leitlinien für die Behandlung von Krebs längst etabliert sind, gibt es seit diesem Jahr eine S3-Leitlinie „Supportive Therapie bei onkologischen PatientInnen“.
An der Entstehung dieser Leitlinie waren über 80 Experten beteiligt, etwa Vertreter der Fachgesellschaften, der Arbeitsgemeinschaften und Organisationen, die an der Versorgung von Krebspatienten mitwirken. Die Betroffenen selbst wurden durch Vertreter der Selbsthilfeorganisationen vertreten. Im Interview erklären die Medizinerinnen Dr. Franziska Jahn, Universitätsklinikum der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, und Prof. Dr. Gerlinde Egerer, Universitätsklinikum Heidelberg die Grundlagen der Leitlinie und Möglichkeiten der Supportivtherapie.
Prof. Egerer: Eine Leitlinie ist ein wichtiges Instrument zur Qualitätssicherung in der Onkologie. Genauso wie es Leitlinien zur Therapie der einzelnen Erkrankungen gibt, ist auch eine Leitlinie zur unterstützenden Therapie notwendig. Nur durch eine Verbesserung in der Supportivtherapie ist es möglich, sowohl aggressive Chemotherapien als auch eine Strahlentherapie adäquat durchzuführen.
Dr. Jahn: Bislang enthält jede Leitlinie, die sich mit einer bestimmten Krebserkrankung beschäftigt, einen kleinen Teil, der sich mit den unterstützenden Maßnahmen beschäftigt. Letztlich gibt es aber neben ganz typischen Nebenwirkungen einer Erkrankung auch Nebenwirkungen, die viele Menschen auch mit unterschiedlichen Krebserkrankungen treffen können, wie Blutarmut unter Krebstherapie, Durchfälle oder Übelkeit. Diese wurden nun in dieser „Querschnittleitlinie“ zusammengefasst. Denn: Supportivtherapie ist die Grundlage dafür, dass auch die Therapie der Erkrankung selbst gelingen kann.
Prof. Egerer: Durch eine adäquate Supportivtherapie werden die Nebenwirkungen der Therapie von Patienten besser toleriert. Manche Therapien sind durch eine adäquate Supportivtherapie erst möglich, z. B. aggressive Chemotherapie und Einsatz von 5-HT3-Rezeptor-Antagonisten und NK1-Rezeptor-Antagonisten.
Dr. Jahn: Das Verhindern und das Behandeln von Nebenwirkungen ist unabdingbar, um den Betroffenen die Erkrankung und Krebstherapie so erträglich wie möglich zu machen. Erst eine adäquate Supportive Therapie ermöglicht eine erfolgreiche, spezifische Krebstherapie. Sie behandelt und verhindert Komplikationen der Krebstherapie und der Erkrankung. Z. B. schaffen unterstützende Maßnahmen, wie die Gabe von Wachstumsfaktoren nach einer Chemotherapie die Voraussetzung, dass die Zyklen einer Therapie möglichst zeitgerecht erfolgen können. Sie verhindern Therapieverzögerungen, die sich auch auf die Wirksamkeit der Behandlung auswirken können.
Prof. Egerer: Eine optimale Supportivtherapie kann erheblich zur Verbesserung des Allgemeinbefindens und somit zur Verbesserung der Lebensqualität des Patienten führen. Auch kann eine optimale Supportivtherapie u. U. dazu führen, dass Patienten eine Therapie „durchhalten“ und nicht voreilig abbrechen aufgrund unerträglicher Nebenwirkungen der Therapie.
Dr. Jahn: Es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen gutem Nebenwirkungsmanagement und Lebensqualität. Übelkeit, Schmerzen, Taubheitsgefühle in den Fingern und Zehen schränken ein, beeinträchtigen die Lebensqualität, das gilt es, zu verhindern.
Prof. Egerer: Supportivtherapie wirkt lediglich unterstützend und nicht selbst gegen die Grunderkrankung.
Dr. Jahn: Leider können nicht alle Nebenwirkungen gelindert werden. Auch das zeigt die Leitlinie. Nach wie vor kann man altbekannten Nebenwirkungen wie Durchfällen durch spezielle Chemotherapien nicht vorbeugen. Auch gegen Nervenschäden durch Chemotherapien gibt es immer noch keine vorbeugenden Medikamente. Oft musste in der Leitlinie geschrieben werden, dass ein Medikament nicht eingesetzt, eine Maßnahme nicht durchgeführt werden soll, weil sie nichts bringt oder man bislang einfach noch nicht weiß, ob sie wirksam oder vielleicht auch schädlich ist. Eine Leitlinie kann Wissen bündeln, aber hat natürlich deswegen noch lange nicht für jedes Problem eine Lösung. Sie deckt eben auch Forschungsbedarf und Unzulänglichkeiten auf.
Prof. Egerer: In erster Linie sollte eine Aufklärung durch den behandelnden Arzt erfolgen, der nicht nur über die Wirkung der Chemotherapie, sondern auch über die Nebenwirkungen der Chemotherapie oder Strahlentherapie aufklären soll, und entsprechende Supportivmaßnahmen erörtern muss. Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl von Selbsthilfe¬gruppen, die sich mit diesem wichtigen Thema beschäftigen. Auch ist die Veröffentlichung einer Patientenleitlinie geplant, die in für Laien verständlicher Sprache wesentliche Inhalte der Leitlinie zusammenfasst.
Dr. Jahn: Alle Dokumente zur Supportivleitlinie finden sich auf den Seiten des Onkologischen Leitlinienprogramms. Neben der langen Fassung werden Stück für Stück Kurzfassungen der einzelnen Kapitel eingestellt. Zugegeben, für medizinische Laien ist die Langfassung schwere Kost, deswegen wird aktuell eine eigene Fassung für Betroffene geschrieben, die bald fertig sein soll.
Die Leitliniengruppe hat sich auf zehn Themen begrenzt, damit das Projekt realisiert werden konnte. Diese zehn Themen wurden von den federführenden Fachgesellschaften aus den vielen supportiven Interventionen ausgewählt. Exemplarisch werden hier einige Möglichkeiten vorgestellt:
Übelkeit und Erbrechen gehören zu den Nebenwirkungen, welche die Patienten am meisten beeinträchtigen. Entsprechend dem Grad der Emetogenität (=Brechreiz auslösend) der Tumortherapie werden vier Risikogruppen unterschieden: Hoch emetogen, moderat emetogen, Gering emetogen, minimal emetogen. Hervorzuheben ist, dass bereits beim ersten Zyklus die Prophylaxe optimal sein muss. Neben dem emetogenen Potenzial der antineoplastischen Substanzen gibt es auch noch patientenindividuelle Risikofaktoren. Ein besonders hohes Risiko Übelkeit und Erbrechen während der Chemotherapie zu entwickeln, haben Frauen, junge Patienten, Patienten mit einer Vorbelastung (z. B. bekannte Reisekrankheit oder Schwangerschaftserbrechen); außerdem sind ängstliche Patienten oft stärker betroffen. Patienten, die eine hoch emetogene medikamentöse Tumortherapie erhalten, sollten eine Prophylaxe mit einem 5-HT3-Rezeptor-Antagonisten, einem NK1-Rezeptor-Antagonisten und Dexamethason bekommen. Auch für die verzögerte Übelkeit, welche die Patienten meist erst zuhause trifft, muss entsprechend vorgesorgt sein. Bei Mehrtages-Chemotherapien ist die antiemetische Medikation entsprechend anzupassen.
Fünf „Hautthemen“ werden berücksichtigt: Haarausfall, Nagelschäden, Hand-Fuß-Syndrom, akneähnliches Exanthem und Juckreiz durch bestimmte Therapien (EGFR-Inhibitoren). Haarausfall kann durch spezielle Kühlkappen verringert, manchmal verhindert werden – allerdings beschreiben viele Patientinnen das Kühlen als unangenehm, auch schmerzhaft. Zur Vorbeugung des Hand-Fuß-Syndroms und Exanthem werden Basismaßnahmen empfohlen: Es geht um guten UV-Schutz, also Vermeidung von direkter Sonneneinstrahlung oder künstlicher UV Strahlung (Solarien), Vermeidung mechanischer und chemischer Noxen z. B. Hitze, Feuchtigkeit, Nassrasur, Okklusionseffekte durch enges Schuhwerk). Dazu wird empfohlen die Haut mindestens zweimal täglich mit harnstoffhaltigen Cremes zu pflegen und pH-neutrale Bade-/Duschöle zu verwenden.
Die chemotherapie-induzierte periphere Neuropathie ist eine häufige, nicht selten dosislimitierende Nebenwirkung. Insbesondere Platinderivate, Taxane oder Vincaalkaloide weisen diese Nebenwirkung auf. Die Leitlinie empfiehlt Patienten, bei denen eine solche Therapie geplant ist, vor Beginn der Therapie eine neurologische Untersuchung. Diese ist im Verlauf zu wiederholen. Individuelle Risikofaktoren wie z. B. eine Blutzuckererkrankung sind zu berücksichtigen, da diese das Risiko eine chemotherapie-induzierte Polyneuropathie zu entwickeln erhöhen. Zur nicht-medikamentösen Prophylaxe gehört die Anleitung der Patientinnen zum regelmäßigen Funktionstraining. Eine wirksame medikamentöse Prophylaxe der chemotherapie-induzierten Polyneuropathie gibt es leider nicht. Die Leitlinie spricht sich hier gegen eine Prophylaxe mit Acetylcystein, Alphalipinsäure und Amifostin aus.
Quelle: Leben? Leben! 3/2017