Multiple Sklerose (MS) ist eine Erkrankung des Zentralnervensystems. Das Zentralnervensystem (ZNS) des Menschen ist für die Koordination von Bewegungsabläufen und die Integration von äußerlichen und innerlichen Reizen zuständig.
Bewegungsstörungen treten im Verlauf der MS bei den meisten Betroffenen auf. Doch Bewegungsstörungen gibt es viele. Die Medizin unterscheidet u. a. Ataxien, Spastiken, Lähmungen und Tremor. Mit Bewegungsstörungen gehen bei MS zudem häufig Empfindungsstörungen (sog. Parästhesien) einher.
Welche Bewegungsstörung auftritt, ist davon abhängig, in welcher Region des Zentralnervensystems (ZNS) sich bei der MS Entzündungsherde entwickeln. Natürlich ist auch die Größe des Entzündungsherds mitentscheidend für die Ausprägung der Störung. Treten z. B. im Kleinhirn Läsionen auf, kann dies zu Störungen in der Koordination von Bewegungen und zu Problemen mit dem Halten des Gleichgewichts führen. Sind Leitungsbahnen der Nerven wie die Pyramidenbahn betroffen, die zuständig für willkürliche Bewegungen und Feinmotorik ist, kommen Signale aus dem Gehirn nicht mehr vollständig und/oder verlangsamt bei den Muskeln an. Muskelschwäche, Spastiken und Lähmungen können die Folge sein. Nicht selten ist in diesen Fällen auch die Wahrnehmung von Empfindungen (z. B. von Wärme und Kälte) gestört. Das von der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) initiierte deutsche MS-Register zählt Ataxien und Spastiken neben Fatigue und Blasenstörungen zu den häufigsten Symptomen bei MS. Als erstes Symptom der MS treten dem MS-Register zufolge meistens Empfindungsstörungen auf.
Als Ataxien oder auch ataktische Bewegungsstörungen bezeichnen Mediziner Störungen der Bewegungskoordination und des Gleichgewichts. Eine Ataxie äußert sich z. B. dadurch, dass es dem Betroffenen nicht mehr gelingt, den Zeigefinger gezielt an die Nasenspitze zu führen oder sicher nach einem Glas zu greifen. Gleichgewichtsstörungen machen sich u. a. durch Gangunsicherheiten, Hin- und Herschwanken oder einen plötzlich breitbeinigeren Gang bemerkbar, der die Gangunsicherheit ausgleichen soll. Von Außenstehenden wird die MS-bedingte Ataxie daher zunächst nicht selten als Alkoholproblem missdeutet. Betroffene sollten deshalb möglichst offen mit ihrer Krankheit umgehen und die Ursache für ihre Probleme klarstellen.
Die Symptome verschlimmern sich häufig in Gesellschaft, also wenn der Betroffene unter Stress steht, weil er sich beobachtet fühlt. Das Gleiche gilt auch bei Erschöpfung und Müdigkeit. In den meisten Fällen zieht eine Ataxie weitere Probleme nach sich: So kann der Betroffene manche Tätigkeiten womöglich ab einem bestimmten Zeitpunkt ohne Hilfsmittel kaum noch oder gar nicht mehr ausüben, eventuell muss er seinen Arbeitsplatz aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. Bei fortgeschrittener Ataxie ist auch im Alltag oft Hilfe nötig. Die Therapie von Ataxien zielt daher in erster Linie darauf ab, die Selbstständigkeit des von MS Betroffenen soweit wie möglich zu erhalten. Sie sollte rasch – am besten bereits kurz nach Feststellung der ersten Symptome – beginnen.
Die Behandlung besteht in erster Linie in gezielter, auf den jeweiligen Patienten abgestimmte Physiotherapie. Eingesetzt wird u. a. das Bobath-Konzept, das davon ausgeht, dass andere als die von MS betroffenen Bereiche im ZNS die Funktion der gestörten Areale übernehmen können. Als Folge sollen die problematisch gewordenen Bewegungen anschließend wieder wie gewohnt und – soweit möglich – störungsfrei ablaufen. Ausdrücklich soll eine Bewegung nicht durch eine andere kompensiert werden. Erst wenn festgestellt wird, dass es nicht gelingt, normale Bewegungsabläufe wiederherzustellen, zieht das Bobath-Konzept Kompensationsmaßnahmen in Betracht.
Auch die Vojta-Therapie kommt bei Ataxien zum Einsatz. Sie arbeitet mit natürlichen Reflexen, die der Physiotherapeut bewusst auslöst, mit dem Ziel, ursprüngliche Bewegungsabläufe wiederherzustellen. Weiterhin ist es sinnvoll, eine Entspannungstechnik zu erlernen und regelmäßig anzuwenden, nicht zuletzt, weil sich Ataxie-Symptome unter Stress verstärken. Selbstverständlich können Betroffene im Alltag zudem Hilfsmittel einsetzen, z. B. Stöcke oder Rollatoren, um die Gangsicherheit zu bessern. Wichtig ist auch, die eigene Wohnung sicherer zu machen und Stolperfallen wie Teppiche, die wegrutschen könnten, zu entfernen. Rasche, hektische Bewegungen sollten Betroffene mit Ataxie vermeiden. Schuhe sollten nach deren Rutschfestigkeit ausgewählt werden. Zudem sollten Personen, die Probleme mit Stand- und Gangunsicherheiten haben, möglichst selten Alkohol trinken. Einige Betroffene berichten zudem über positive Erfahrungen mit Kneippanwendungen wie kalte Güsse oder wechselwarme Fuß- oder Armbädern. Wer gleichzeitig unter Empfindungsstörungen der Extremitäten leidet, muss dabei achtgeben, dass das Wasser nicht zu heiß oder zu kalt ist. Im schlimmsten Fall kann es zu Verbrühungen oder Erfrierungen kommen.
Eine wirksame medikamentöse Therapie gibt es bei Koordinationsstörungen und Gangunsicherheit nicht, nur gegen den Tremor, der ebenfalls zu den ataktischen Bewegungsstörungen zählt, können Medikamente eingesetzt werden.
Der Tremor, das unkontrollierbare Zittern bestimmter Muskelpartien, fällt unter die Gruppe der Ataxien. Vom Tremor sind manchmal nur bestimmte Teile des Körpers betroffen, manchmal auch der gesamte Körper. Oft tritt ein Tremor bei gezielten Bewegungen wie dem Griff nach einem Gegenstand oder dem Händeschütteln auf (sog. Intentionstremor). In Gesellschaft kann er sich u. U. verschlimmern. Behandelt wird er zunächst ähnlich wie die anderen Ataxien nicht-medikamentös. Bewährt haben sich in erster Linie Entspannungsverfahren. Medikamente werden erst eingesetzt, wenn andere Methoden nicht greifen und der Tremor für den Betroffenen sehr belastend ist. Besonders starke Formen des Tremors können u. U. durch einen chirurgischen Eingriff (sog. stereotaktische Hirnoperation) gelindert werden, bei dem dem Patienten eine kleine Sonde ins Gehirn eingesetzt wird, die mithilfe von Signalen, die eine Art „Schrittmacher“ aussendet, den Tremor eindämmt.
Ebenfalls sehr belastend sind für viele MS-Betroffene Spastiken. Dabei handelt es sich um eine übermäßige Anspannung der Muskeln, die u. a. Verkrampfungen und z. T. auch heftige Schmerzen nach sich zieht. Nicht zuletzt können sich die Muskeln infolge einer dauerhaft erhöhten Muskelspannung verkürzen, was oft neben einer meist parallel auftretenden Muskelschwäche zu weiteren Bewegungseinschränkungen führt. Dass die Spastik auch äußerlich sichtbar ist (z. B. als zumindest zeitweilige Krümmung der Hände), stellt für viele Betroffene ein weiteres Problem dar. Obwohl Spastiken in keinerlei Zusammenhang zu den kognitiven Fähigkeiten eines Menschen stehen, haben Menschen mit Spastiken nach wie vor häufig mit diesem Vorurteil zu kämpfen – was oft eine zusätzliche seelische Belastung darstellt. Spastiken können zwar einerseits die Gehfähigkeit einschränken, andererseits verleihen sie den Beinen jedoch bei gleichzeitig bestehender Muskelschwäche oft erst die nötige Stabilität, die das Stehen und Gehen ermöglicht. Bei der Behandlung einer Spastik muss der Arzt oder Therapeut daher unbedingt auf diese Besonderheit Rücksicht nehmen, d. h., die Therapie muss individuell austariert werden. Ein weiteres Kennzeichen von Spastiken: Sie können nicht nur die Bewegungsfähigkeit einschränken, sondern auch die Blasenentleerung behindern.
Die Behandlung besteht auch hier in erster Linie in physiotherapeutischen Maßnahmen, die u. a. Reflexbewegungen stärken und – neben anderem – die Gehfähigkeit bessern und erhalten sollen. Viele Übungen können die Betroffenen allein zu Hause durchführen. Das regelmäßige Training ist hier besonders wichtig, damit die Muskeln ausreichend oft gedehnt werden. Sollte die Durchführung von Übungen an Land zu schwer fallen, klappt es vielleicht im Schwimmbad. Auch die Therapie mit Geräten wie speziellen Laufbändern, die Unterstützung beim Gehen bieten, ist bei Spastiken oft günstig, wird jedoch meistens nur in Rehakliniken oder speziellen Zentren durchgeführt. Schienen, die die Muskeln strecken und stützen, können bei Spastiken ebenso eingesetzt werden wie Gehhilfen. Entspannungstechniken wie Yoga oder Autogenes Training zeigen bei Spastiken u. U. ebenfalls eine positive Wirkung.
Spastiken und die damit einhergehenden Schmerzen können auch medikamentös behandelt werden. Zu den Medikamenten gehören Muskelrelaxanzien – Wirkstoffe, die die Muskeln entspannen. Diese werden i. d. R. in Tablettenform verabreicht, in schweren Fällen gibt es jedoch auch die Möglichkeit eine kleine Pumpe zu implantieren, die kontinuierlich geringe Mengen eines Muskelrelaxans an die Rückenmarksflüssigkeit abgibt. Falls die Spastiken auf bestimmte Muskeln begrenzt sind, kann auch die Injektion eines Nervengifts (Botulinumtoxin) Erleichterung bringen. Daneben steht ein Cannabinoid-Präparat zur Verfügung. Weiterhin gibt es ein Mittel zur Verbesserung der Gehfähigkeit, das Menschen erhalten, die bereits stärker in ihrer Gehfähigkeit eingeschränkt sind, d. h., einen EDSS-Grad von 4 bis 7 aufweisen (EDSS = Expanded Disability Status Scale, Skala zur Messung der Behinderung bei MS).
Mit Bewegungsstörungen gehen häufig Empfindungs- oder Gefühlsstörungen einher, oft sind sie das erste Symptom für eine beginnende Bewegungsstörung. Viele Betroffene berichten von dem Gefühl, als würden kleine Ameisen über ihren Körper oder bestimmte Bereiche des Körpers laufen, andere von Taubheitsgefühlen – Berührungen oder Wärme- und Kältereize werden weniger stark wahrgenommen. Wiederum andere haben das Gefühl, als seien ihre Gelenke plötzlich wie eingeschnürt. Dieser Druck auf die Gelenke wird oft als äußerst schmerzhaft empfunden.
Anfangs verschwinden diese Empfindungsstörungen i. d. R. nach einiger Zeit wieder, später können sie auch über einen längeren Zeitraum auftreten. In jedem Fall sollten die Betroffenen versuchen, möglichst wenig an die Gefühlsstörungen zu denken. Sollten sie jedoch Schmerzen bereiten oder das Leben stark einschränken, kann der Arzt z. B. ein Schmerzmittel verordnen. Das jedoch muss unbedingt auf die anderen Arzneimittel abgestimmt werden, die der von MS Betroffene nimmt, um unerwünschte Wechselwirkungen zu vermeiden. Wer Wärme- oder Kältereize kaum wahrnimmt, muss beim Hantieren mit heißen oder sehr kalten Dingen (z. B. Töpfen beim Kochen, Wasser beim Baden oder Duschen) besonders vorsichtig sein. Im Zweifelsfall ist es empfehlenswert, eine andere Person zu fragen, ob sie behilflich sein kann, z. B. indem sie die Wassertemperatur beim Geschirrspülen oder Duschen prüft.
Quelle: Befund MS 02/2013