Multiple Sklerose (MS) ist eine Erkrankung des Zentralnervensystems. Das Zentralnervensystem (ZNS) des Menschen ist für die Koordination von Bewegungsabläufen und die Integration von äußerlichen und innerlichen Reizen zuständig.
Trotz intensiver Forschung und des Einsatzes neu entwickelter Medikamente ist die Multiple Sklerose bisher nicht heilbar. Realistische Ziele der MS-Therapie sind eine schnelle Rückbildung der Symptome nach einem Schub und die Verhinderung von neuen Schüben. So soll Behinderungen und zunehmenden Einschränkungen im täglichen Leben vorgebeugt werden. Bei bestehenden Einschränkungen ist es das Ziel, eine weitere Verschlechterung zu verhindern, die vorhandenen Funktionen zu bewahren und die bestehenden Symptome mittels Krankengymnastik, Ergotherapie und verschiedenen Medikamenten abzudämpfen.
Zur Akuttherapie eines Krankheitsschubes mit Verschlechterung der bestehenden Beschwerden oder neu aufgetretenen Symptomen wird eine Behandlung mit Kortison empfohlen. Das Ziel ist eine schnelle Wiederherstellung der Funktionen wie vor dem Schub. Dazu werden über meist drei Tage Infusionen mit Kortison verabreicht. Oftmals kommt es bereits nach der ersten Gabe zu einer Besserung der Beschwerden. Nach der Stoßtherapie verbleibt das Kortison noch eine Weile im Körper, sodass in den folgenden Tagen eine weitere Besserung möglich ist. Bleibt jedoch eine zufriedenstellende Rückbildung der Beschwerden aus, so kann nach ca. zwei Wochen eine erneute Stoßtherapie mit erhöhter Dosis und verlängerter Behandlungsdauer erfolgen. Falls im Anschluss immer noch schwerwiegende Funktionseinschränkungen vorliegen (z. B. ausgeprägte Lähmungen oder Sehstörungen), kann eine Blutwäsche (Plasmapherese) in einem neurologischen Zentrum angeschlossen werden. Hierbei werden die gegen den eigenen Körper gerichteten Antikörper aus dem Blut gewaschen. Da dies das Herzkreislaufsystem belasten kann, wird diese Therapie z. T. auf Intensiv- oder Überwachungsstationen unter engmaschigen Kontrollen von Blutdruck, Puls und Herzaktion sowie weiteren Faktoren durchgeführt.
Zur Schubprophylaxe sind in Deutschland Interferonpräparate, Glatirameracetat, Natalizumab, Fingolimod und Mitoxantron zugelassen. Die Basistherapie bei neu diagnostizierter, schubförmiger MS besteht aus einem Interferonpräparat oder Glatirameracetat. Ob die gewählte Schubprophylaxe wirksam ist, kann frühestens nach sechs Monaten bis zu einem Jahr beurteilt werden. Bei Patienten mit hoher Krankheitsaktivität und schneller Verschlechterung kann eine Umstellung auf Natalizumab, Fingolimod oder Mitoxantron erfolgen.
Interferone
Interferone werden i. d. R. mehrmals pro Woche ins subkutane Fettgewebe oder in den Muskel gespritzt. Bei den Interferonpräparaten treten häufig, vor allem am Anfang der Therapie, grippeähnliche Symptome wie Kopf- und Gliederschmerzen oder Schüttelfrost auf. Diese Medikamente können sich daher negativ auf das Allgemeinbefinden und die Lebensqualität auswirken, sodass sie manchmal durch den Patienten pausiert oder ganz abgesetzt werden. Die grippalen Symptome können mit Paracetamol oder Ibuprofen vor Verabreichung der Interferone abgedämpft werden. Zudem wird eine abendliche Anwendung empfohlen, sodass mögliche Nebenwirkungen „verschlafen“ werden. Bei den Präparaten, die ins subkutane Fettgewebe gespritzt werden, können zudem lokale Rötungen und Verhärtungen an der Einstichstelle auftreten. Bei Schwangerschaftswunsch müssen Interferone nicht im Vorfeld abgesetzt werden, da nach den neuesten Analysen kein erhöhtes Risiko für Fehlgeburten oder Fruchtschädigung besteht. Während der Schwangerschaft wird jedoch als Vorsichtsmaßnahme eine Therapiepause empfohlen.
Glatirameracetat
Glatirameracetat wird einmal täglich ins subkutane Fettgewebe appliziert und ist insgesamt gut verträglich. Grippeartige Nebenwirkungen wie bei den Interferonen sind nicht zu erwarten, jedoch werden häufig lokale Reizungen und Verhärtungen an der Einstichstelle beobachtet. Selten tritt eine Flush-Symptomatik auf, und zwar dann, wenn das Medikament versehentlich in eine Vene injiziert wird. Hierbei kommt es zu Gesichtsrötung, Herzrasen und manchmal auch zu Luftnot.
Bei Patienten, die unter der Basistherapie mit Interferonen oder Glatirameracetat weiterhin Schübe entwickeln, wird eine Therapieeskalation mit Natalizumab oder Fingolimod eingeleitet. Auch bei Patienten mit schnellem Krankheitsfortschritt kann primär die Therapie mit Natalizumab/Fingolimod begonnen werden.
Natalizumab
Hierbei handelt es sich um Antikörper, welche alle vier Wochen als Kurzinfusion intravenös verabreicht werden. Die Gabe erfolgt i. d. R. ambulant in einem neurologischen Zentrum oder einer Praxis. Die meisten Patienten erfahren unter dieser Therapie eine Stabilisierung der Erkrankung mit verminderten Schüben. Der Wirkstoff erfuhr einen Rückschlag als mehrere Patienten an einer PML (progressive multifokale Leukenzephalopathie) erkrankten. Hierbei handelt es sich um eine durch sog. JC-Viren verursachte Viruserkrankung des Zentralnervensystems, die bisher fast nur bei stark abwehrgeschädigten Patienten aufgetreten war (z. B. nach Organtransplantationen oder bei Aids). Nach aktuellem Kenntnisstand lassen sich drei Risikofaktoren, an einer PML unter der Natalizumab-Therapie zu erkranken, benennen. Diese sind eine länger anhaltende Natalizumab-Behandlung (≥ zwei Jahre), eine vorherige immunsuppressive Therapie sowie ein Nachweis von Antikörpern gegen JC-Virus im Blut. Als weitere Nebenwirkung der Natalizumab-Therapie wurden gehäuft Lebererkrankungen beschrieben, sodass regelmäßige Kontrollen der Leberwerte während einer Behandlung mit Natalizumab erfolgen sollten. Unter Natalizumab wird eine strikte Schwangerschaftsverhütung empfohlen und es sollte nicht gestillt werden.
Fingolimod
Fingolimod ist bisher die einzige oral verfügbare Therapie zur Behandlung der schubförmigen Multiplen Sklerose. Der Wirkstoff wird in Kapselform einmal täglich eingenommen. Vor Beginn der Therapie mit Fingolimod soll sichergestellt werden, dass Antikörper gegen das Varizella-Zoster-Virus (VZV) vorliegen. Bei Patienten, die eine Windpockenerkrankung durchgemacht haben, liegen diese Antikörper vor. Bei negativem Antikörpertest ist eine Impfung gegen VZV vor Beginn der Therapie empfehlenswert. Die erste Medikamentengabe erfolgt unter Überwachung (Blutdruckmessung und Elektrokardiogramm), da es nach der ersten Einnahme von Fingolimod zu einem deutlichen Abfall der Herzfrequenz und einer Abnahme der Erregungsleitung am Herzen kommen kann. Diese Nebenwirkung bildet sich normalerweise nach einigen Stunden zurück und tritt bei kontinuierlicher Einnahme des Wirkstoffs nicht erneut auf. Des Weiteren wurden Kopfschmerzen, Durchfall sowie Anstieg der Leberwerte unter der Therapie beschrieben. Bei einigen Patienten wurden Schwellungen im zentralen Sehbereich des Augenhintergrunds (Makulaödem) beobachtet. Um potenziell auftretende Nebenwirkungen zu erkennen und einen optimalen Therapieverlauf sicherzustellen, werden während der Behandlung mit Fingolimod begleitende Untersuchungen wie Blut- und augenärztliche Kontrollen durchgeführt.
Bei dieser Verlaufsform ist bei rascher Verschlechterung eine Mitoxantron-Therapie sinnvoll. Der Wirkstoff wurde ursprünglich zur Behandlung von Krebserkrankungen entwickelt und wird i. d. R. alle drei Monate als Infusion verabreicht. Die Wirksamkeit ist bei Patienten mit rasch fortschreitender, schubförmiger MS und bei Patienten mit sekundär progredienter MS belegt. Während der Therapie muss eine strenge Schwangerschaftsverhütung erfolgen. Mögliche Nebenwirkungen sind Übelkeit und Erbrechen, Durchfall, ein erhöhtes Risiko für Infektionen, eine Schädigung des Herzens mit Abnahme der Pumpfunktion und Unfruchtbarkeit. Einzelne Fälle von Leukämie sind beschrieben. Vor und während der Verabreichung muss eine Ultraschalluntersuchung des Herzens erfolgen, nach Verabreichung regelmäßige Blutkontrollen. Die Mitoxantrongabe kann mit einem Kortisonstoß (s. o.) kombiniert werden.
Diese Verlaufsform ist die seltenste und bisher ist keine gesicherte Immuntherapie bekannt. Interferone und Glatirameracetat haben in Studien keinen Erfolg gezeigt. Bei schnellem Fortschreiten der Erkrankung können regelmäßige Kortisonstoßtherapien wirksam sein, in einigen Fällen kann auch eine Behandlung mit Mitoxantron erwogen werden.
Neben der Schubtherapie und der Schubprophylaxe spielt die Behandlung der Symptome eine bedeutende Rolle für das Wohlbefinden und die Lebensqualität. Symptome wie Spastik, Gangstörung, Blasenstörungen, Depressionen, Schmerzen und Schlafstörungen können mit verschiedenen Medikamenten gelindert oder ganz aufgehoben werden. Wichtig ist auch, nicht offensichtliche Beschwerden, wie Konzentrationsstörungen, Depressionen, Fatigue, Impotenz oder Verstopfung, anzusprechen. Nur so kann gezielt behandelt werden. Eine krankengymnastische und ergotherapeutische Mitbehandlung bei Patienten mit z. B. Gang- und Koordinationsstörungen ist eine wichtige Säule der MS-Therapie. Hierbei werden u. a. Strategien entwickelt, die bestehenden Einschränkungen zu kompensieren.
Priv.-Doz. Dr. Katharina Hein, Prof. Dr. Mathias Bähr
Universitätsklinikum Göttingen
Quelle: Ratgeber MS 2013