Multiple Sklerose (MS) ist eine Erkrankung des Zentralnervensystems. Das Zentralnervensystem (ZNS) des Menschen ist für die Koordination von Bewegungsabläufen und die Integration von äußerlichen und innerlichen Reizen zuständig.
Im Lauf der Zeit entwickeln rund 80% aller Menschen mit MS eine Störung der Harnblasenfunktion mit überaktiver Blase, Harninkontinenz und/oder Restharnbildung. Bei bis zu 14% ist sie laut der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) und dem Krankheitsbezogenen Kompetenznetz Multiple Sklerose (KKNMS) sogar das erste Anzeichen für eine MS. Etwa 70% der an MS Erkrankten, so die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG), haben im Verlauf der Krankheit zudem Probleme mit der Stuhlentleerung wie Verstopfung oder Stuhlinkontinenz.
Sowohl Blasen- als auch Darmfunktionsstörungen sind ein Thema, das kaum jemand gerne anspricht. Daneben schränken sie u. U. die Lebensqualität stark ein. So ziehen sich Betroffene z. B. manchmal aus dem gesellschaftlichen Leben zurück – aus Angst, jemand könne ihr Problem bemerken. DGN, KKNMS und die DMSG sind sich daher einig, dass der behandelnde Arzt bei der Untersuchung jeden MS-Patienten auch zu seinen Toilettengewohnheiten sowie zu Inkontinenz und zu Harnwegsinfekten befragen sollte, selbst wenn dieser bislang Blasenstörungen nicht erwähnt hat. Zudem können mit jedem Krankheitsschub Blasenprobleme erstmals auftreten oder bereits vorhandene Funktionsstörungen sich ändern. Auch Darmfunktionsstörungen sollten vom Arzt bzw. Patienten thematisiert werden, nicht zuletzt um mit einer individuell angepassten Behandlung die Lebensqualität zu erhalten oder zu verbessern.
Die Harnblase ist – vereinfacht ausgedrückt – ein Muskelsack, der den Urin speichert. Der innere, nicht willentlich kontrollierbare sowie der beeinflussbare äußere Schließmuskel am Blasenausgang sind dafür zuständig, dass die Blase während des Speichervorgangs verschlossen bleibt. Bei einer bestimmten Füllmenge melden Rezeptoren in der Blasenwand über Nervenimpulse dem Gehirn, dass es Zeit ist, die Blase zu entleeren. Dies äußert sich im Gefühl des Harndrangs. Beim Toilettengang entspannen sich der innere und der äußere Schließmuskel – Letzterer als Folge gezielter Entspannung –, und die Blasenmuskulatur zieht sich zusammen und presst den Urin in die Harnröhre, von wo aus er nach außen geleitet wird. Beteiligt am willentlichen Harnverhalt ist auch die Beckenbodenmuskulatur, die die Organe des Beckens umfasst. Je kräftiger sie ist, umso besser schließt die Blase.
Im Rahmen einer MS liegen im Allgemeinen sog. neurogene Blasenfunktionsstörungen vor: Die Blasenstörung geht auf eine Schädigung der Nerven im Gehirn und/oder Rückenmark zurück. Mediziner unterscheiden hauptsächlich drei neurogene Blasenfunktionsstörungen:
– Bei der Detrusor-Hyperreflexie (auch Detruser-Hyperaktivität) oder überaktiven Blase gibt die Blasenmuskulatur schon bei kleinsten, von der Blase gespeicherten Harnmengen das Signal zur Harnentleerung. Hauptsymptom ist häufiger Harndrang, u. U. auch das Unvermögen, den Harn halten zu können (Harninkontinenz).
– Bei der Detrusor-Hyporeflexie oder „schlaffen“ Blase zieht sich der Blasenmuskel nicht ausreichend zusammen, sodass selbst nach dem Toilettengang eine gewisse Menge Urin in der Blase bleibt. Dieser sog. Restharn bietet Krankheitserregern, die z. B. aus der Harnröhre in die Blase hochwandern, ein optimales Lebensumfeld. Als Folge können Blasenentzündungen und beim Aufsteigen der Krankheitserreger über die Harnleiter zu den Nieren auch Nierenbecken- und Nierenentzündungen auftreten. Auch bei der Detruser-Hyporeflexie kann es u U. zur Inkontinenz kommen, wenn die Blase sich so stark füllt, dass sie überläuft (sog. Überlaufinkontinenz).
– Von einer Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie (DSD) sprechen Ärzte, wenn es Koordinationsprobleme zwischen der Blasenmuskulatur und dem äußeren Schließmuskel (Sphinkter) gibt. Bei der DSD zieht sich beim Toilettengang die Blasenmuskulatur zusammen, doch der äußere Schließmuskel entspannt sich nicht, sondern bleibt verschlossen. Als Folge tröpfeln meistens nur geringe Mengen Harn aus der Blase. Oft entleert sie sich nicht vollständig, sodass sich Restharn bildet.
Da im Verlauf der MS immer wieder andere Bereiche des Nervensystems in Mitleidenschaft gezogen werden können, kann sich die Form der Blasenfunktionsstörung ändern. Die MS Therapie Konsensusgruppe der DMSG empfiehlt zur Früherkennung von Blasenfunktionsstörungen deshalb regelmäßige Restharnbestimmungen (z. B. mithilfe von Ultraschall), selbst wenn bislang keine Symptome wie Inkontinenz oder Blasenentzündungen auftreten.
Als Erstes erfolgt bei Blasenfunktionsstörungen i. d. R. eine nicht-medikamentöse Therapie. Die Leitlinien zur Behandlung der MS von DGN und KKNMS empfehlen MS-Patienten mit Blasenstörungen zunächst, Buch über ihre Toilettengewohnheiten zu führen (sog. Miktionstagebuch). In diesem Notizbuch sollten die Trinkmenge und die Art der Getränke festgehalten werden, genauso die Menge des ausgeschiedenen Urins und der Zeitpunkt des jeweiligen Toilettengangs. Ein Miktionstagebuch oder Blasentagebuch zum Herunterladen als PDF-Datei finden Sie unter www.curado.de/Blasentagebuch-20073.
Sind die Intervalle zwischen den Toilettengängen sehr kurz, wird der Patient angehalten, diese gezielt zu verlängern – also sein Verhalten selbst gezielt zu beeinflussen. Das können zunächst nur einige Minuten sein, die der Betroffene warten muss, bevor er die Toilette aufsucht. Nach und nach verlängern sich dann die Intervalle. Daneben werden Verfahren wie Beckenbodentraining und Biofeedback eingesetzt. Regelmäßiges Beckenbodentraining beispielsweise verringerte laut einer 2011 online veröffentlichten Studie der Universität Campinas (Brasilien) bei an MS erkrankten Frauen mit überaktiver Blase bereits nach zwölf Wochen den Harndrang merklich.
DGN und KKNMS legen Patienten mit überaktiver Blase in den Leitlinien nahe, die Trinkmenge auf ein bis zwei Liter pro Tag zu verringern, um den Harndrang zu reduzieren. Damit widersprechen DGN und KKNMS der immer wieder verbreiteten Empfehlung, genau dies auf keinen Fall zu tun. DGN und KKNMS führen ihre Empfehlung auf Studien zurück, die darauf hindeuten, dass die Einschränkung der Trinkmenge sowohl den Harndrang als auch die Häufigkeit der Toilettengänge reduziert und so die Lebensqualität erhöht. Bei ständigem Vorhandensein von Restharn von mehr als 100 Millilitern rät die Leitlinie zum intermittierenden Selbstkatheterismus, um Nierenerkrankungen vorzubeugen. Dabei führt der Betroffene – sofern er daran nicht durch MS-typische Symptome wie Spastiken gehindert wird – zu festgelegten Zeiten einen dünnen Katheter über die Harnröhre zur Harnblase vor und entleert über diesen Katheter gezielt seine Blase. Ein Katheter, der den Harn über die Bauchdecke ableitet (suprapubischer Katheter), sollte nur als letztes Mittel eingesetzt werden.
Zur Behandlung der überaktiven Blase werden oft sog. Anticholinergika eingesetzt, die die Blasenmuskulatur beruhigen. Die Ansäuerung des Harns durch Cranberry-Präparate oder die Aminosäure Methionin – so DGN und KKNMS – kann Harnwegsinfekten vorbeugen. Seit September 2011 ist zudem Botulinumtoxin zur Behandlung der überaktiven Blase zugelassen. Botulinumtoxin wird unter örtlicher Betäubung in die Harnblase gespritzt und lähmt deren Muskulatur teilweise. Dadurch verringert sich der Harndrang durchschnittlich 42 Wochen lang. Allerdings steigt auch das Risiko zur Restharnbildung.
Als minimalinvasives Verfahren („Schlüssellochchirurgie“) zur Behandlung von Blasenfunktionsstörungen steht die sakrale Neuromodulation („Blasenschrittmacher“) zur Verfügung. Dabei werden zunächst Testelektroden an die vom Rückenmark abgehenden Sakralnerven angelegt, die zur Harnblase führen. Die Elektroden regen die Blase zur vollständigen Entleerung an, wodurch sich u. U. Inkontinenzprobleme reduzieren und Restharnbildung vermieden wird. Nach erfolgreichem Test kann der Blasenschrittmacher fest implantiert werden. Da sich die Symptome bei MS-Patienten jedoch im Krankheitsverlauf ändern können, ist der Blasenschrittmacher nur für wenige Menschen mit MS geeignet. Weitere operative Methoden wie der operative Harnblasenersatz kommen meist nur als letztes Mittel der Behandlung infrage.
Verstopfung ist die am häufigsten auftretende Darmfunktionsstörung bei MS. Ob sie Folge der MS ist oder andere Ursachen hat, ist nicht immer klar. Ursache für Stuhlinkontinenz sind in vielen Fällen MS-bedingte Nervenschädigungen. Sowohl für Verstopfung als auch für Stuhlinkontinenz gilt: Ist die MS der Auslöser, können nur die Symptome behandelt werden, – die Grunderkrankung – die MS – hingegen bleibt. Das bedeutet, dass die Symptome ohne Therapie i. d. R. wiederkehren können.
Bei Verstopfung empfehlen Mediziner zunächst, das Volumen des Stuhls durch den Verzehr von genügend Ballaststoffen (Gemüse, Obst, Vollkornprodukte) zu erhöhen. Denn je besser der Darm gefüllt ist, umso stärker wird im Allgemeinen die Darmbewegung angeregt. Der Darm entleert sich folglich meist regelmäßiger. Da der Kot durch den Verzehr von Ballaststoffen zudem weicher wird, lässt er sich meist leichter ausscheiden. Eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr sowie – soweit mit der MS möglich – regelmäßige Bewegung fördern die Darmtätigkeit ebenfalls. Physiotherapie und Beckenbodengymnastik können zusätzlich helfen. Fruchten diese Maßnahmen nur wenig, sind zum Abführen laut DMSG Glyzerinzäpfchen oder Klistiere (Einlauf) die ersten Mittel der Wahl. Andere Abführmittel sollten eingesetzt werden, wenn sie der Arzt verordnet. Falls sich der Schließmuskel des Darms durch Spastik schmerzhaft verkrampft und dies die Darmentleerung erschwert, ist u. U. die Anwendung von Botulinumtoxin A möglich, das der Muskelspannung entgegenwirkt.
Stuhlinkontinenz kann laut DMSG u. a. vorgebeugt werden, indem der Darm alle drei bis vier Tage mit einem Klistier gezielt entleert wird. Auch sollten Betroffene untersuchen lassen, inwieweit der Schließmuskel des Enddarms seine Funktion noch wahrnimmt. Frauen, die ihren Schließmuskel z. B. zumindest teilweise kontrollieren können, hilft in einigen Fällen gezieltes Beckenbodentraining. Der Arzt kann zudem Medikamente verordnen, die die Darmtätigkeit hemmen. Daneben ist es meist sinnvoll, Hilfsmittel (Einlagen usw.) einzusetzen. So gibt es z. B. für Menschen, die gerne schwimmen, sog. Analtampons, die das unwillkürliche Austreten von Kot verhindern.
Quelle: MS 2/12