Multiple Sklerose (MS) ist eine Erkrankung des Zentralnervensystems. Das Zentralnervensystem (ZNS) des Menschen ist für die Koordination von Bewegungsabläufen und die Integration von äußerlichen und innerlichen Reizen zuständig.
Es wird vermutet, dass der Einfluss von Mikroorganismen, die im oder auf dem Körper leben (Mikrobiota, deren Genom Mikrobiom genannt wird), unter den verschiedenen Umweltfaktoren, die für die Entstehung von MS von Bedeutung sind, eine signifikante Rolle spielen könnte. Das ist ein Ergebnis des Kongresses der European Academy of Neurology (EAN).
Grundlegende Studien mit dem Mausmodell der MS haben gezeigt, dass die Krankheit in keimfreien und mit Antibiotika behandelten Mäusen signifikant seltener vorkam als in herkömmlichen Mäusen. Nun sind Studien über die Grundlagenforschung hinausgegangen und haben begonnen zu analysieren, wie die Mikrobiota Entstehung und Fortschreiten der ZNS-Autoimmunität (ZNS = Zentralnervensystem) beeinflussen kann.
In diesen Untersuchungen hat sich gezeigt, dass eine entzündungsfördernde Darmumgebung auch die Autoimmunität des Gehirns förderte, indem sie u. a. die Ausweitung von TH17-Zellen verstärkte, einem speziellen Typ von T-Helferzellen, der mit der Entstehung von Autoimmunität in Verbindung gebracht wirund T-Zellen, die mit Myelin reagieren, werden im Dünndarm zu einem krankhaften TH17-Phänotyp und wandern von dort zum ZNS, wo sie Schäden an den Myelinscheiden vermitteln. Einige Bakterienarten wiederum scheinen die ZNS-Autoimmunität zu verändern, sogar zu verbessern, weshalb die Modulation der Darmmikrobiota durch Probiotika als erste Behandlungsstrategie im Mausmodell der MS eingeführt wurde. Studien haben ergeben, dass ein bestimmtes Probiotikum positive Auswirkungen auf die klinischen Beschwerden im Mausmodell hatte. Auch kurzkettige Fettsäuren, die von Bakterien bei der Fermentation von Ballaststoffen produziert werden, konnten den Verlauf der Krankheit positiv beeinflussen.
Diese Beobachtungen haben klinische Studien angestoßen, die Unterschiede zwischen dem Darmmikrobiom von MS-Patienten und dem der nichtbetroffenen Bevölkerung aufzeigten. So ergab eine Studie von Cosorich et al., dass die Darmumgebung bei MS-Patienten eine Rolle bei der Ausweitung von TH17-Zellen spielt und ein vermehrtes Vorkommen dieser Zellen mit einer hohen Krankheitsaktivität sowie Änderungen in der Mikrobiota der Darmschleimhaut einherging. Wie schon bei erwachsenen Patienten beobachtet, zeigte sich in einer im European Journal of Neurology veröffentlichen Studie auch bei Kindern, dass die Darmumgebung eine wichtige Rolle bei der Entstehung der ZNS-Autoimmunität spielte.
Tremlett et al. fanden heraus, dass Kinder mit einer MS-spezifischen Mikrobiota-Art ein erhöhtes Risiko für Schübe aufweisen, und dass die Mikrobiota bei Kindern, die behandelt wurden, größere Ähnlichkeiten mit der von Gesunden zeigte. Das ist insofern von Bedeutung, dass die Entstehung von MS mit weiteren Umweltfaktoren in Verbindung gebracht wird, die die bakterielle Zusammensetzung des Darms beeinflussen und somit Studienergebnisse verzerren könnten. Da jedoch pädiatrische Patienten weniger anfällig als Erwachsene für Umweltfaktoren sind, die mit der Entstehung von MS in Verbindung gebracht werden (z. B. eine Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus, Rauchen, Adipositas), deuten diese Ergebnisse auf eine mögliche, ursächliche Rolle der im Darm lebenden Bakterien bei der Entstehung von MS hin.
Das Wissen, dass die Mikrobiota verschiedene Wirkungen auf das Gewebe des Wirts hat, sowie die Tatsache, dass die sich rasant entwickelnde Fähigkeit, die Bakterienstämme im Darm zu bestimmen und vorsichtig zu verändern, hat das Potenzial, wichtige Fortschritte in der Behandlung und Verbesserung der Lebensqualität von MS-Patienten zu ergeben, so die Ergebnisse des EAN-Kongresses 2018.
Quelle: Befund MS 3/2018