Multiple Sklerose (MS) ist eine Erkrankung des Zentralnervensystems. Das Zentralnervensystem (ZNS) des Menschen ist für die Koordination von Bewegungsabläufen und die Integration von äußerlichen und innerlichen Reizen zuständig.
Dr. Mareike Schwed, Gründerin der Neurowerkstatt in Pfungstadt und Beiratsmitglied der Hilde-Ulrichs-Stiftung für Parkinsonforschung, beschäftigt sich seit Jahren mit den Auswirkungen von Sport und Bewegung auf neurologische Erkrankungen wie MS und Parkinson. In ihrer Neurowerkstatt bietet sie u. a. speziell auf Menschen mit MS zugeschnittene Schulungen nach neuesten neurologischen Erkenntnissen an, mit denen sie Betroffene in Bewegung bringt. Zugleich hält sie bundesweit Vorträge über die Wirkung von Sport auf neurologische Erkrankungen.
Angefangen hat alles mit einem Forschungsprojekt an der Universität Frankfurt. Ein Überblicksartikel zeigte, dass ein regelmäßiges „Lauftraining“ bei Mäusen, die an Parkinson erkrankt waren, das Fortschreiten der Krankheit aufhalten konnte. Wir übertrugen die Erkenntnisse aus dem Tierexperiment auf Trainingssituationen mit Menschen, die MS, Parkinson oder andere neurologische Erkrankungen hatten. Insbesondere zeigten die Tierexperimente, dass das Laufen und abwechslungsreiche Aufgabenstellungen entscheidend dafür sind, dass ihr Gehirn vermehrt sogenannte neurotrophe Faktoren, darunter vor allem BDNF (Brain-derived neurotrophic factor, aus dem Gehirn stammender neurotropher Faktor), ausschüttete. BDNF schützt das Zentralnervensystem (ZNS) und wird u. a. in Verbindung mit dem Stichwort „Neuroplastizität“ gebracht, der Fähigkeit der Nerven, neue Funktionen zu übernehmen. Auch an der Erneuerung von Nerven, der Neurorestauration, scheint BDNF einen Anteil zu haben. Bei einem MS-Schub schüttet der Körper ebenfalls BDNF zur Reparatur der Nerven aus. Allerdings werden viele Menschen mit MS bei fortschreitender Krankheit inaktiver, sodass ihr Körper immer weniger BDNF produziert. Das bedeutet, dass die Gefahr für Läsionen (Schädigungen) wächst. In der Neurowerkstatt, so sagen wir, versorgen wir unsere Patienten mit BDNF – durch an die jeweiligen Möglichkeiten und Bedürfnisse angepasstes Bewegungstraining. Wir machen den Menschen bewusst, dass es längst nicht immer gut ist, sich zu sehr zu schonen, sondern helfen ihnen, aus ihrer „Komfortzone“ herauszukommen.
Den Begriff „innerer Schweinhund“ finde ich bei Menschen mit MS unfair. Denn an sie werden ohnehin schon viele Erwartungen herangetragen à la „Wenn du dies oder jenes machst, wird es dir bestimmt besser gehen“. Die Betroffenen müssen jedoch sehr oft mit ihrer Energie haushalten, sie haben häufig das Gefühl ohnehin nicht genug Kraft für den Alltag zu haben, z. B. aufgrund von Fatigue, kognitiven Einschränkungen oder auch Koordinationsproblemen oder Gleichgewichtsstörungen. Dann auch noch Sport einzubauen, fällt schwer. Es geht somit nicht darum, den inneren Schweinehund zu überwinden, sondern zu schauen, wo sind überhaupt Ressourcen, um Bewegung in den Alltag einzubinden, um wieder mehr Vertrauen in den eigenen Körper zu bekommen und positive Erlebnisse zu erfahren.
Deshalb machen wir den Betroffenen erst einmal klar, dass Bewegung auch eine Ressource ist, die z. B. dazu beitragen kann, dass die Fatigue abnimmt und es ihnen besser geht. Danach fragen wir, zu welchen Zeiten sie sich vorstellen können, sich mehr zu bewegen, wann sie Zeit und dann vor allem auch Energie haben, um ein Training einzubauen. Bei vielen heißt das, kleine Bewegungshäppchen in den Alltag einzubauen. Bei Patienten, die fitter sind, können wir das Training selbstverständlich anders gestalten. Wir machen Mut dazu, sich regelmäßig zu bewegen, und die meisten merken, dass es ihnen im Anschluss besser geht. Wir schaffen sozusagen Aha-Erlebnisse, Schlüsselmomente.
Patienten, die schon immer Sport getrieben haben, sehen Bewegung als logische Ressource. Sie müssen selbstverständlich einen anderen Trainingsplan bekommen als Menschen, die ihr Leben lang kaum oder keinen Sport gemacht haben. Da heißt es dann oft schon mal, Disziplinierte zu bremsen und Sportunerfahrene langsam an den Sport heranzuführen, z. B. indem sie sich möglichst fünfmal die Woche 10 Minuten am Tag bewegen. Wenn sie es dann dreimal schaffen, dürfen sie sich trotzdem auf die Schulter klopfen. Es geht darum, positive Erlebnisse zu schaffen und Misserfolge zu meiden.
Dazu gibt es verschiedene hochwertige Studien, z. B. eine Untersuchung von 2017, bei der die Hälfte von 29 MS-Probanden mit einer durchschnittlichen Krankheitsdauer von sieben Jahren und einem EDSS von 2,9 ein halbes Jahr lang ein von der Intensität her submaximales Krafttraining zweimal wöchentlich durchführten. Die andere Hälfte pausierte währenddessen, danach wurde getauscht. Es stellte sich heraus, dass das Training bei einer schubförmigen MS für eine gesteigerte kortikale Dicke, also die Dicke der Hirnrinde, sorgte – ein Indiz für einen neuroprotektiven und neuroregenerativen Effekt.
Eine weitere Studie, bei der zwei Gruppen von MS-Patienten regelmäßig am Fahrradergometer trainierten, ergab, dass die Gruppe, die ein Intervalltraining (abwechselnd stärkere Trainingsintensität und lockeres Radeln) durchführte, später bessere kognitive Leistungen erbrachte als die Gruppe, die mehrfach wöchentlich unter kontinuierlicher Belastung trainierte. Bei der Intervallgruppe verringerte sich zudem die Ausschüttung eines Enzyms, das die Blut-Hirn-Schranke durchlässig macht.
Beides ist – abhängig von den Wünschen der Patienten – gleich gut. Beim Personal Training gucken wir natürlich ganz genau hin und konzentrieren uns auf die individuelle Situation. In der Regel erhöht sich die Leistung der Betroffenen sehr rasch, denn wir planen zweimal wöchentlich eine Stunde Training ein, in den Pausen sprechen wir über die Theorie.
An den Patientenschulungen nehmen sechs bis zehn Personen teil, das Ganze dauert 1,5 Stunden und ist eine Kombination aus Theorie und Praxis, sodass die Teilnehmer lernen, selbstgesteuert zu trainieren. Am Schluss der Trainings und Schulungen erhalten alle Teilnehmer eine individuelle Trainingsplanung.
Indem wir die Resilienzfaktoren Optimismus und Selbstwirksamkeit stärken, z. B. indem wir klarmachen, was die neurotrophen Faktoren, die beim Sport ausgeschüttet werden, alles können.
Dieses Training richtet sich vor allem an MS-Patienten, die frisch diagnostiziert sind und sich für Rehasport oder Physiotherapie zu fit fühlen. Parkour ist ein intensiver Sport, bei dem Ausdauer, Kraft und eine komplexe Koordination gestärkt werden. Er setzt vermutlich große Mengen von neurotrophen Faktoren frei. Es geht oft los mit Balancieren auf der Bordsteinkante, dann erklimmen wir die nächste Höhe, z. B. eine 30 cm, dann eine 1 m-hohe Mauer, auf der dann balanciert wird, je nach eigenem Empfinden und Können. Da stellen sich auch Fragen wie: Wie komme ich auf die Mauer, wie ziehe ich mich am besten hoch und stütze mich ab, balanciere ich auf zwei Beinen oder auf allen vieren. Aber auch bei fortgeschrittener MS kann man Elemente aus dem Parkour übertragen und wir beobachten, wie der Ehrgeiz wächst, in einer bestimmten Art und Weise (im sogenannten Tripod) über ein Hindernis zu kommen. Die Freude ist groß, wenn es gelingt. Man verlässt beim Parkour nicht nur die eigene Komfortzone, man verbessert sich auf allen Ebenen. Dabei erzielt man selbstverständlich Riesenerfolgserlebnisse – wichtig zum Aufbau der Resilienz, um Krisen besser zu bewältigen.
Ich habe Sport und Informatik studiert und bin in Frankfurt in die Parkinsonforschung gelangt. Dort habe ich einen Gangtest entwickelt und mit Parkinsonprobanden das erste Nordic-Walking-Projekt weltweit durchgeführt.
Ich schule Selbsthilfegruppen, sodass sie in die Treffen mehr Bewegung einbauen können. Diese Schulungen werden von den Krankenkassen mitfinanziert. Es handelt sich dabei, genau wie beim Parkour, um ein Herzensprojekt.
Frau Dr. Schwed, haben Sie vielen Dank für das Interview.
Quelle: Befund MS 1/2019