Multiple Sklerose (MS) ist eine Erkrankung des Zentralnervensystems. Das Zentralnervensystem (ZNS) des Menschen ist für die Koordination von Bewegungsabläufen und die Integration von äußerlichen und innerlichen Reizen zuständig.
Beweglichkeit spielt eine große Rolle für die Lebensqualität – sowohl in der Freizeit als auch im Beruf. Doch es gibt bei MS viele Möglichkeiten, die Beweglichkeit zu erhalten und/oder mit Bewegungsdefiziten mobil zu bleiben.
Die Diagnose MS ruft bei zahlreichen Betroffenen die Angst hervor, ab einem bestimmten Stadium der Krankheit nicht mehr gehfähig zu sein. Das von der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft initiierte MS-Register zeigt jedoch, dass die MS keineswegs immer zu erheblichen, andauernden Mobilitätseinschränkungen führen muss: So benötigen 70% der Menschen mit MS im Alter von 50 Jahren keine Gehhilfe, um eine Strecke von 100 Metern zu Fuß zurückzulegen. Das entspricht einem EDSS-Wert von weniger als sechs. Die EDSS-Skala – EDSS = Expanded Disability Status Scale = Skala für den Schweregrad der Behinderung – gibt die Beeinträchtigung der körperlichen Verfassung von Menschen mit MS an. Allerdings treten bei vielen Betroffenen im Verlauf der Krankheit Beschwerden auf, die zumindest vorübergehend Bewegungsdefizite nach sich ziehen.
Einschränkungen der Beweglichkeit werden u. a. durch Spastiken (erhöhte Muskelspannung und -steifheit, die mit Krämpfen eingehen kann) hervorgerufen, die dem MS-Register zufolge bei rund 63% aller Betroffenen auftreten. Von Störungen der Bewegungskoordination (= Ataxien, insbesondere Tremor, unkontrolliertes Zittern) sind rund 48% der Menschen mit MS betroffen und von Fatigue (starke Erschöpfung und Müdigkeit) etwa 65%. Die Fatigue bewirkt zwar nicht direkt Bewegungsprobleme, aber wer rasch erschöpft ist, kann z. B. beim Gehen nur kürzere Strecken zurücklegen oder ist nach geringen Anstrengungen bereits zu unkonzentriert, um weitere körperliche Tätigkeiten auszuführen. Bewegungseinschränkungen können gleichermaßen bei der schubförmigen MS als auch bei den primär und sekundär progredienten Form auftreten.
Ein von MS Betroffene sollte sich möglichst bald nach seiner Diagnostizierung einem oder mehreren Mobilitätstests unterziehen, um festzustellen, ob bereits Bewegungseinschränkungen vorliegen. In diesem Fall hat der Arzt nach dem Test einen Referenzwert, auf den er sich später beziehen und an dem er festmachen kann, ob es im Verlauf der Krankheit zu Veränderungen der Mobilität kommt. I. d. R. wird der Arzt zudem den körperlichen Zustand des Patienten mithilfe verschiedener Tests in die EDSS-Skala einordnen. Diese Einstufung wird in regelmäßigen Abständen überprüft.
Es gibt verschiedene Arten von Mobilitätstests. Beim Acht-Meter-Test muss der von MS Betroffene z. B. acht Meter zu Fuß zurücklegen, wobei er so schnell gehen soll, wie er kann. Beim Sechs-Minuten-Test ermittelt der Arzt die Strecke, die ein Mensch mit MS innerhalb von sechs Minuten gehend zurücklegen kann – Pausen eingeschlossen. Ein anderer Test stellt fest, wie viel Zeit ein MS-Patient braucht, um von einem Stuhl aufzustehen, drei Meter nach vorne zu gehen, sich dann umzudrehen und erneut hinzusetzen. Daneben gibt es weitere Tests, die ähnlich ablaufen. Braucht der Patient eine Gehhilfe, kann er diese bei allen Tests verwenden. Der Test/die Tests sollten in bestimmten Abständen wiederholt werden, um Verschlechterungen oder Verbesserungen der Gehfähigkeit festzustellen – nach einem Schub z. B. bietet sich die erneute Durchführung eines Mobilitätstests an.
Die Ursache für alle Formen von Bewegungseinschränkungen liegt bei der MS in erster Linie in der Schädigung der Myelinschicht, die die Nerven ummantelt und für die Schnelligkeit der Informationsübertragung im Zentralnervensystem sorgt. Die Schäden schwächen Nervenimpulse ab, lassen sie ins Leere laufen oder leiten sie fehl, was zu den verschiedensten körperlichen Symptomen führt, z. B. zu Muskelschwäche oder auch zur vermehrten Anspannung von Muskeln. Damit die MS einen günstigeren Verlauf nimmt und es zu möglichst wenigen Bewegungseinschränkungen kommt, ist es daher nach bisherigen Erkenntnissen sinnvoll, möglichst frühzeitig eine MS-Therapie einzuleiten. Die Basistherapie besteht in einer immunprophylaktischen Behandlung, d. h. in der Gabe von Medikamenten, die das Immunsystem beeinflussen. Die symptomatische Therapie ist auf die spezielle Bewegungseinschränkung abgestimmt. So unterscheiden sich physiotherapeutische Übungen bei Ataxien und Spastiken, auch die Medikamentenwahl zur Behandlung ist abhängig von der jeweiligen Bewegungseinschränkung.
Ganz wichtig ist – das untermauern zahlreiche wissenschaftliche Studien –, dass Menschen mit MS trotz Bewegungseinschränkungen in Bewegung bleiben. Denn körperliche Aktivität wirkt sich günstig auf den gesamten Organismus auf. Sie sorgt dafür, dass bestehende Fähigkeiten erhalten bleiben. Daneben kann man beim Sport gezielt körperliche Schwächen trainieren, diese im Rahmen der Möglichkeiten verbessern oder aber durch alternative Bewegungsabläufe kompensieren.
Eine Sport-Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) mit MS-Patienten unter dem Titel BETTER MS ergab, dass sich bei den Teilnehmern, die regelmäßig über einen Zeitraum von acht bis neun Wochen sportlich aktiv waren, nicht nur die Mobilität und die Gehfähigkeit, sondern auch die Hirnleistung verbesserte. Auf die Stimmung der Teilnehmer hatte das Training ebenfalls eine positive Wirkung. Zudem hatten die sportlichen Probanden weniger mit Müdigkeit zu kämpfen als die Mitglieder einer Kontrollgruppe. Die Ergebnisse waren so erfreulich, dass die Wissenschaftler vermuten, Sport könne einen positiven Einfluss auf körpereigene Reparaturmechanismen im Zentralnervensystem haben. Die Studie zeigte weiterhin, dass auch Menschen mit MS im fortgeschrittenen Stadium noch aktiv Sport treiben können – so können sie z. B. mit einem Hand- anstelle eines konventionellen Fahrradergometers trainieren.
In welcher Form man körperlich aktiv ist, hängt von den individuellen Bewegungseinschränkungen ab. Am besten lassen sich MS-Betroffene von einem Physiotherapeuten beraten. Bewegungseinschränkung schließen die Ausübung einer bestimmten Sportart nicht zwingend aus. So lässt sich z. B. vom Rollstuhl aus Basketball oder Hockey spielen, auch Tanzen ist mit dem Rollstuhl möglich. Wichtig ist, dass man nicht bis zur Erschöpfung trainiert, sondern das richtige Maß findet, mit dem man sich auch am nächsten Tag wohlfühlt. Kleinere sportliche Übungen lassen sich i. d. R. unproblematisch in den Tagesablauf einbauen.
Vor allem im Alltag machen Menschen mit MS Bewegungseinschränkungen zu schaffen – sei es, dass Alltagstätigkeiten wie das Anziehen, Kochen oder Einkaufen schwer fallen oder es im Beruf Probleme gibt, weil manche Bewegungen nicht mehr oder nur unter großen Anstrengungen möglich sind. Hier können z. B. eine Anpassung des Tagesablaufs oder der Einsatz von Hilfsmitteln helfen. Vielen Menschen mit MS ist es sehr wichtig, den Alltag selbstständig zu gestalten. Deshalb sollten auch Angehörige ihnen nicht alles abnehmen, sondern „ihren“ MS-Betroffenen möglichst viel selbst machen lassen.
Für das selbstständige Anziehen stehen z. B. Hilfsmittel wie Sockenanzieh- oder Knöpfhilfen zur Verfügung. In der Küche sollten die wichtigsten Gegenstände in Reichweite liegen, Arbeitsflächen sollten so niedrig sein, dass man auch im Sitzen arbeiten kann. Wer im Rollstuhl sitzt, sollte darauf achten, dass die Arbeitsflächen unterfahren werden können. Die Bedienelemente der Küchengeräte, Steckdosen und Lichtschalter sollten gut erreichbar sein. Schwere Gegenstände können Menschen mit Bewegungseinschränkungen auf einem kleinen Wagen transportieren oder über den Tisch bzw. die Arbeitsfläche schieben, statt sie hin- und herzutragen. Im Bad helfen Haltegriffe beim Aufstehen von der Toilette bzw. beim Ausstieg aus der Badewanne oder Dusche; ein Duschhocker ermöglicht das Duschen im Sitzen.
Bei der Hausarbeit sollten Menschen mit Bewegungseinschränkungen so viele Pausen einlegen wie nötig. Sinnvoll ist zudem, die Arbeiten über den Tag oder ggf. mehrere Tage zu verteilen. Auch der Einsatz „kleiner Helfer“, z. B. von Besen und Bodenwischern mit ausreichend langen Stielen kann helfen. Beim Einkaufen lohnt es sich, zuvor einen Einkaufszettel zu machen und zu überlegen, an welcher Stelle im Geschäft die einzelnen Einkäufe zu finden sind, um doppelte Wege zu vermeiden.
Bei einer Schwerbehinderung hat ein Arbeitnehmer mit Bewegungseinschränkungen nach § 81 Abs. 4 Sozialgesetzbuch Neun (SGB IX) einen Anspruch auf Einrichtung eines behindertengerechten Arbeitsplatzes. Und zu den Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation gehört nicht nur für Schwerbehinderte die Bereitstellung von technischen Hilfen und persönlichen Hilfsmitteln durch den Rehabilitationsträger (meistens der Rentenversicherungsträger).
Zur Verbesserung der Gehfähigkeit bei MS kann der Arzt seit 2011 in bestimmten Fällen den Wirkstoff Fampridin verordnen. Dieser Wirkstoff ist für die erwachsenen MS-Patienten bedingt zugelassen, die auf der EDSS-Skala zwischen 4 und 7 eingestuft sind. Fampridin erhöht u. a. die Gehgeschwindigkeit. Da das Mittel jedoch nicht allen Betroffenen hilft, wird wenige Wochen nach der erstmaligen Verordnung überprüft, ob Fampridin die Gehfähigkeit verbessert hat. Ist das nicht der Fall, wird das Medikament meist wieder abgesetzt. Die verordnete Dosis darf auf keinen Fall überschritten werden.
Eine wichtige Rolle beim Erhalt der Mobilität spielen auch Gehhilfen. Wer z. B. Probleme mit der Bewegungskoordination hat oder beim Gehen rasch erschöpft ist, kann ggf. eine Gehhilfe verwenden. Je nach Bewegungseinschränkung können Menschen mit MS z. B. Teleskopstöcke nutzen, wie sie auch Wanderer benutzen, aber auch Unterarmgehstützen, Gehstöcke oder Rollatoren kommen infrage. Wer nur begrenzte Strecken zurücklegen kann, sollte für den Aufenthalt im Freien über die Anschaffung eines Rollstuhls nachdenken. Denn mit einem Rollstuhl können auch Menschen mit stärkeren Bewegungseinschränkungen weiterhin aktiv am sozialen Leben teilnehmen.
Quelle: Befund MS 03/2013