Multiple Sklerose (MS) ist eine Erkrankung des Zentralnervensystems. Das Zentralnervensystem (ZNS) des Menschen ist für die Koordination von Bewegungsabläufen und die Integration von äußerlichen und innerlichen Reizen zuständig.
32% der MS-Patienten, die dem deutschen MS-Register Auskunft über ihre Begleiterscheinungen der MS gegeben haben, gaben an, von Blasenschwäche betroffen zu sein, Darmstörungen traten bei rund 8% auf. Die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) geht davon aus, dass weitaus mehr Menschen mit MS von Blasenschwäche und Darmstörungen betroffen sind, denn dies sind Themen, die oft verschwiegen werden – auch beim Arztbesuch.
Letzteres ist jedoch der falsche Weg, mit den Beschwerden umzugehen. Wer aktiv etwas gegen Blasenschwäche oder Inkontinenz unternehmen möchte, muss mit dem behandelnden Arzt über die eigenen Probleme sprechen. Denn auf diese Weise lassen sie sich oft in den Griff bekommen.
Unter den Patienten, die dem MS-Register Auskunft über ihre Blasen- und Darmstörungen gegeben haben, erhalten bei Blasenschwäche rund 47% und bei Darmstörungen etwa 53% keine Therapie. Von den in Behandlung befindlichen Personen unterzieht sich sowohl bei Blasen- als auch bei Darmstörungen der Großteil (50% bzw. 62%) einer medikamentösen Behandlung. Fast ebenso oft werden Hilfsmittel (z. B. Einlagen) eingesetzt. Physiotherapie, darunter z. B. Beckenbodentraining bei Blasenschwäche, kommt bei Blasenschwäche bei rund einem Viertel der Patienten, die eine Therapie durchführen, und bei Darmstörungen in 37% der Fälle zum Tragen. Physiotherapie kann insbesondere bei leichter Blasenschwäche helfen. Denn wer die Beckenbodenmuskulatur trainiert, hat es einfacher, den Harn zu verhalten, da eine intakte Beckenbodenmuskulatur dazu beiträgt, die Harnröhre zu verschließen, wenn die Nervenversorgung der Muskeln noch intakt ist.
Blasenschwäche und Stuhlinkontinenz treten bei MS als Folge von Nervenschädigungen auf. Blasenstörungen können sich dabei auf verschiedene Weise zeigen. So kommt es häufig zunächst zu gesteigertem Harndrang – Betroffene haben das Gefühl, ständig Wasser lassen zu müssen. Beim Toilettenbesuch wird dann jedoch nur eine geringe Menge Urin entleert. U. U. kann der gesteigerte Harndrang in einer Harninkontinenz, also dem unwillkürlichen Verlust von Urin, münden. Bei manchen Erkrankten verbleibt zudem durch eine gestörte Entleerung eine gewisse Menge Urin in der Harnblase. In diesem sog. Restharn können sich Bakterien vermehren, die einerseits Blasenentzündungen hervorrufen, andererseits über die Harnleiter bis zu den Nieren aufsteigen und dort eine Nierenbecken- oder eine Nierenentzündung auslösen können. Bei vermehrten Blasenentzündungen, sollte daher auch an eine Restharnbildung gedacht werden. Bei Stuhlinkontinenz ist die Funktion des Schließmuskels durch die MS-bedingten Nervenschädigungen gestört.
Unwillkürlicher Harnabgang ist nicht nur unangenehm, sondern zieht i. d. R. auch weitere Probleme nach sich – angefangen bei der Angst, das Haus zu verlassen, wenn nicht sicher ist, ob sich eine Toilette in der Nähe befindet, bis hin zur gesellschaftlichen Isolation, weil Betroffene befürchten, dass andere etwas von der Blasenschwäche bemerken könnten. Als weitere Folge können sich seelische Probleme bis hin zu Depressionen entwickeln. Gründe genug, schnell eine Behandlung einzuleiten sowie Wege zu finden, mit der Blasenschwäche umzugehen.
Zunächst ist es sinnvoll, über die Toiletten- und Trinkgewohnheiten Protokoll zu führen: Wann ist der Harndrang am größten? Zu welchen Zeiten wird regelmäßig die Toilette aufgesucht? Was und wie viel wird getrunken? Oft zeichnen sich anhand dieses Protokolls bereits Muster ab, an denen sich Betroffene orientieren können. Z. B. kann es sein, dass der Harndrang nach dem Genuss bestimmter Getränke besonders stark ist oder er regelmäßig zu gewissen Tageszeiten am größten ist. Dann können Betroffene sich darauf einstellen und z. B. auf den Konsum dieser Getränke weitgehend verzichten oder zur Zeit des größten Harndrangs die Toilette aufsuchen und die Harnblase vorsorglich entleeren. Auch regelmäßiges Beckenbodentraining, das Patienten nach erster Anleitung in der Physiotherapie allein zu Hause durchführen können, kann dabei helfen, den Urin trotz starken Harndrangs zu halten.
Selbstverständlich kann der Arzt auch Medikamente verordnen, die auf die individuellen Probleme abgestimmt sind. Dazu gehören u. a. Anticholinergika, die die Muskelkontraktionen der Harnblase hemmen und auf diese Weise dafür sorgen, dass sie den Harn hält. Hilfsmittel wie Slipeinlagen, Inkontinenzslips oder Harnröhrenstöpsel für Frauen oder Kondomurinale für Männer, die im Slip über den Penis gezogen werden, können ebenfalls dazu beitragen, trotz Blasenschwäche ein normales Leben zu führen.
Ein Mittel, den unwillkürlichen Urinabgang einzudämmen, ist zudem der intermittierende Selbstkatheterismus, kurz ISK. Dabei führen sich die Erkrankten selbst einen dünnen Schlauch (Katheter) über die Harnröhre in die Harnblase ein und entleeren auf diese Weise regelmäßig zu bestimmten Zeiten ihre Blase. Insbesondere bei Restharnbildung ist der ISK angezeigt, denn mit seiner Hilfe wird die Blase vollständig entleert, sodass sich keine Bakterien in ihr vermehren können. ISK können Patienten – Frauen wie Männer – i. d. R. schnell erlernen. Der Vorteil eines regelmäßigen ISK: Es kommt wesentlich seltener zu ungewolltem Harnabgang. Voraussetzung für den ISK ist jedoch eine ausreichende feinmotorische Koordination und die Bereitschaft, die notwendigen Hygienevorschriften für den ISK zu beachten. Bei MS-Patienten mit Spastik oder Bewegungseinschränkungen kann Ersteres u. U. schwierig sein.
Quelle: Befund MS 2/2018