Multiple Sklerose (MS) ist eine Erkrankung des Zentralnervensystems. Das Zentralnervensystem (ZNS) des Menschen ist für die Koordination von Bewegungsabläufen und die Integration von äußerlichen und innerlichen Reizen zuständig.
Zwei Drittel aller von MS Betroffenen, so die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft Bundesverband e. V. (DMSG), erhalten ihre Diagnose zwischen dem 20. und dem 40. Lebensjahr und damit in der Lebensphase, in der das Thema Familiengründung aktuell ist. Viele neu an MS Erkrankte befürchten deshalb, sie müssten nun von ihrem Wunsch nach einer Partnerschaft und Kindern Abschied nehmen. Patienten, die bereits Kinder haben, zweifeln, ob sie das Familienleben mit ihrer Krankheit meistern.
Klar ist, dass niemand voraussagen kann, wie sich die MS beim Einzelnen mit der Zeit entwickelt. Während manche Betroffene nur wenige Schübe haben und sich die damit verbundenen Einschränkungen unter entsprechender Medikation zurückbilden, kommt es bei anderen im Verlauf ihrer Krankheit zu Beeinträchtigungen, z. B. hinsichtlich der Beweglichkeit. Genau, wie die Krankheit das eigene Befinden beeinträchtigt, wirkt sie sich auch auf das Familienleben und eine Partnerschaft aus. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, sich bereits vor der Familienplanung – bzw. wenn bereits Kinder da sind, bald nach der Diagnose – Gedanken über die Organisation des Familienlebens zu machen für den Fall, dass der Elternteil, der sich hauptsächlich um die Kinder kümmert, z. B. aufgrund eines MS-Schubs zeitweilig ausfällt oder sich körperliche Einschränkungen ergeben, mit denen bestimmte Tätigkeiten (zeitweise) nicht möglich sind. Das gibt nicht nur den von MS Betroffenen, sondern auch ihren Partnern Sicherheit.
Die Fruchtbarkeit von Frauen und Männern mit MS ist nach Angaben der DMSG und des deutschsprachigen Multiple Sklerose und Kinderwunsch Registers (DMSKW) durch die Krankheit nicht eingeschränkt, auch nicht unter einer verlaufsmodifizierenden Therapie. Mitoxantron hingegen scheint die Fruchtbarkeit von Frauen über 35 Jahren zu beeinträchtigen.
Auch eine Kinderwunschbehandlung ist mit MS möglich, allerdings – so das DMSKW – scheinen solche Behandlungen ein erhöhtes Schubrisiko mit sich zu bringen. So ist die Wahrscheinlichkeit für einen Schub in den ersten drei bis vier Monaten im Anschluss an eine Hormontherapie erhöht, wenn keine Schwangerschaft eintritt. Das DMSKW rät Frauen mit MS, die sich einer Kinderwunschbehandlung unterziehen, die verlaufsmodifizierende Therapie i. d. R. weiterzuführen – selbstverständlich nach Absprache mit den behandelnden Ärzten.
Frauen hingegen, die eine Schwangerschaft ohne Zuhilfenahme von reproduktionsmedizinischen Verfahren planen, sollten i. d. R. bereits kurz vor ihrer Schwangerschaft die verlaufsmodifizierende Therapie absetzen. Obwohl den wenigsten MS-Medikamenten bislang nachgewiesen werden konnte, dass sie die Gefahr für Fehlbildungen oder Fehlgeburten erhöhen, soll das Risiko für das ungeborene Kind so gering wie möglich gehalten werden. Der Wirkstoff Mitoxantron aber, der die Tätigkeit des Immunsystems unterdrückt, sollte sechs Monate vor einer Schwangerschaft abgesetzt werden, da er Änderungen im Erbgut hervorrufen kann.
Für Frauen, die während der MS-Therapie ungeplant schwanger werden, gibt das DMSKW Entwarnung: Studien haben gezeigt, dass die meisten Schwangerschaften auch dann problemlos verlaufen, werden zu Anfang der Schwangerschaft MS-Medikamente genommen. Manche Medikamente können bei Bedarf auch während der Schwangerschaft verabreicht werden, sollte dies nötig sein, um ein Fortschreiten der Krankheit zu verhindern. Allerdings muss der Arzt Risiken und Nutzen stets gegeneinander abwägen.
Über eine Schwangerschaft sollte eine Frau mit MS möglichst rasch ihren Frauenarzt sowie den die MS behandelnden Mediziner informieren. Der Gynäkologe sollte zudem über die MS in Kenntnis gesetzt werden, um schnell und adäquat reagieren zu können, falls während der Schwangerschaft Probleme auftreten. I. d. R., so das DMSKW, wirkt sich eine Schwangerschaft positiv auf die MS aus. Die Schubrate verringert sich während der neun Monate stetig. Im letzten Schwangerschaftsdrittel ist sie um bis zu 80% reduziert. Sollte dies jedoch nicht der Fall sein, ist darüber nachzudenken, die verlaufsmodifizierende Therapie u. U. weiterzuführen. Treten während der Schwangerschaft keine besonderen Probleme auf, sind zusätzliche Untersuchungen i. d. R. nicht notwendig. Bei Frauen, die ungeplant schwanger geworden sind und Angst vor Fehlbildungen beim Kind haben, kann eine Pränataldiagnostik (z. B. eine Fruchtwasseruntersuchung) u. U. sinnvoll sein.
Für die Geburt müssen Schwangere mit MS ebenfalls keine besonderen Vorkehrungen treffen, so das DMSKW. Die Geburt kann – falls nichts anderes dagegen spricht – auf normalem Weg erfolgen. Eine Periduralanästhesie (PDA) ist auch bei MS möglich. Nach der Geburt ist die Gefahr für MS-Schübe erhöht – laut DMSKW sind rund 30% aller Frauen mit MS in den ersten drei Monaten nach der Geburt von einem Schub betroffen. Im Anschluss normalisiert sich das Schubrisiko wieder.
Auch Frauen mit MS können stillen und ihr Kind bis zu sechs Monate lang ausschließlich mit Muttermilch ernähren, wie es die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt. In vielen Fällen, so die Erfahrungen des DMSKW, beeinflusst ausschließliches Stillen die MS positiv. Während des Stillens ist die Fortführung der verlaufsmodifizierenden MS-Therapie i. d. R. nicht angezeigt, da Medikamente in die Muttermilch übergehen können. In Absprache mit dem Arzt kann ein Medikament wie Interferon-beta manchmal während der Stillzeit zur Behandlung der MS gegeben werden. Frauen mit erhöhter MS-Aktivität sollten jedoch besser aufs Stillen verzichten und die Behandlung der MS so rasch wie möglich nach der Geburt wieder aufnehmen. Schübe hingegen können mit Kortison auch während der Stillzeit behandelt werden.
So unproblematisch es auch mit MS sein kann, Eltern zu werden, auf eine Partnerschaft und das Familienleben wirkt sich die Krankheit in den meisten Fällen in der ein oder anderen Form doch aus. Betroffene und ihre Familienangehörigen müssen lernen, mit der Unsicherheit zu leben, dass die Krankheit jederzeit fortschreiten kann und der von MS betroffene Partner u. U. bestimmte Aufgaben nicht länger wahrnehmen kann, sondern (zeitweise) vielleicht auf Hilfe angewiesen ist.
Aus diesem Grund sollten Familien, bei denen ein Elternteil an MS erkrankt ist, für diese Eventualitäten nicht erst im Notfall, sondern rechtzeitig einen „Plan B“ machen. So müssen sie z. B. überlegen, wer sich um Kinder kümmert, falls ein Krankenhausaufenthalt notwendig wird. Auch die Kinder sollten am besten schon von klein auf daran gewöhnt werden, von anderen Menschen als den eigenen Eltern betreut zu werden. So ist es sinnvoll, das Kind bzw. die Kinder früh in die Obhut einer Kindertagesstätte oder Tagesmutter zu geben. Das ist nicht nur für den Notfall wichtig, es trägt auch zur Entlastung bei, wenn die MS das Leben beeinträchtigt. Vielleicht wohnen auch die Großeltern in der Nähe und haben die Möglichkeit, sich zeitweilig um die Kinder zu kümmern? Oder andere Eltern passen hin und wieder einmal auf das Kind auf. Bei einem Krankenhausaufenthalt des Partners, der den Haushalt führt, übernimmt die gesetzliche Krankenkasse i. d. R. die Kosten für eine Haushaltshilfe. Am besten, Eltern suchen selbst bereits rechtzeitig nach einer Person, die mit den Kindern gut auskommt und in einem solchen Fall den Haushalt führen kann.
Je älter die Kinder werden, umso mehr können sie in die Haushaltsführung einbezogen werden – vor allem dann, wenn klar ist, dass der von MS betroffene Elternteil aufgrund der Krankheit bestimmte Tätigkeiten schlecht oder nicht länger bewältigen kann. Es ist es wichtig, den Kindern auch klarzumachen, dass sie sich nicht für alles verantwortlich fühlen müssen. Denn das wäre eine zu große Belastung für sie. Doch im Rahmen ihrer Möglichkeiten können selbst kleinere Kinder bereits helfen, z. B. indem sie Besorgungen erledigen.
Auf die Partnerschaft wirkt sich die MS ebenfalls aus. Oft müssen beide Partner erst einmal lernen, mit der Krankheit angemessen umzugehen. So muss der von MS betroffene Partner vielleicht zunächst einmal ausloten, welche Tätigkeiten und Aufgaben er trotz der Krankheit weiter übernehmen kann, um so selbstständig wie möglich zu bleiben, aber auch um Hilfe anzunehmen, wo es nötig ist. Der nichtbetroffene Partner hingegen muss u. U. lernen, seinen von MS betroffenen Lebensgefährten nicht „in Watte zu packen“, sondern ihm weiterhin Tätigkeiten zuzumuten, die im Rahmen seiner Möglichkeiten sind. Deshalb ist es wichtig, sich regelmäßig auszutauschen und auch über die Ängste zu sprechen, die eine solche Erkrankung wie MS i. d. R. nach sich zieht.
Auf das Sexualleben kann die MS sowohl körperliche als auch seelische Auswirkungen haben. Bei Männern kann es aufgrund von Nervenschädigungen zu Erektions- und Orgasmusstörungen kommen, bei Frauen treten u. U. beispielsweise Empfindungsstörungen auf. Doch auch andere körperliche Beeinträchtigungen (z. B. Lähmungen, Spastik) können sich auf die körperliche Liebe auswirken – etwa, weil der von MS betroffene Partner sich schämt, dass sein Körper nicht mehr so funktioniert wie früher. Wichtig ist es, mit dem Partner über die Probleme zu reden, die auftreten. Denn oft findet man gemeinsam eine Lösung. Hinzukommt, dass der kontinuierliche Austausch die Beziehung i. d. R. stärkt.
Um die Datenlage zu verbessern, ob und wie sich eine Schwangerschaft auf die MS auswirkt und umgekehrt, bittet das DMSKW Frauen mit MS, die in den nächsten zwei bis drei Monaten schwanger werden wollen, bereits schwanger sind oder sich bei bislang unerfülltem Kinderwunsch einer reproduktionsmedizinischen Behandlung unterziehen wollen, sich an das DMSKW zu wenden und einige Fragen zu beantworten. Gleichzeitig bietet das DMSKW Frauen in einer speziellen MS- und Kinderwunschsprechstunde Beratung zum Thema Schwangerschaft, Kinderwunsch und MS an. Termine können unter der Telefonnummer 02 34/5 09 24 20 vereinbart werden.
Quelle: Befund MS 3/2015